European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2021:R000519.20210315 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 15 März 2021 | ||||||||
Aktenzeichen: | R 0005/19 | ||||||||
Anmeldenummer: | 08101643.8 | ||||||||
IPC-Klasse: | G08B 17/06 G08B 17/107 G08B 29/18 G08B 29/24 G08B 17/113 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | C | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Gefahrenerkennung mit Einbezug einer in einem Mikrocontroller integrierten Temperaturmesseinrichtung | ||||||||
Name des Anmelders: | Siemens Schweiz AG | ||||||||
Name des Einsprechenden: | HEKATRON Vertriebs GmbH | ||||||||
Kammer: | EBA | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: | |||||||||
Schlagwörter: | Antrag auf Überprüfung - Rügepflicht Verletzung des rechtlichen Gehörs (ja) - überraschende Entscheidungsbegründung |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
[Die nachfolgenden Ausführungen sind wörtlich Teil A des Ladungsbescheids entnommen.]
I. Der Überprüfungsantrag der Einsprechenden (Antragstellerin) - eingereicht von einem zugelassenen Vertreter - richtet sich gegen die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.02 in der Beschwerdesache T 2378/13. In dieser Sache hatte die Einsprechende Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt, mit welcher diese das europäische Patent Nr. 2 091 029 in geändertem Umfang auf der Grundlage des damaligen Hauptantrags aufrechterhalten hatte. Die Einsprechende hatte beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das europäische Patent zu widerrufen. Mit der zur Überprüfung stehenden Entscheidung hob die Beschwerdekammer die Entscheidung der Einspruchsabteilung auf. Sie verwies die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurück mit der Anordnung, das Patent in geändertem Umfang auf der Grundlage der Ansprüche des neuen Hauptantrags vom 1. April 2019 und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.
Die Entscheidung wurde in der mündlichen Verhandlung vom 1. April 2019 verkündet, und die mit Entscheidungsgründen versehene schriftliche Entscheidung wurde für die Beteiligten am 24. April 2019 zur Post gegeben.
Die Bezeichnung der Erfindung lautet:
Gefahrenerkennung mit Einbezug einer in einem Mikrocontroller integrierten Temperaturmesseinrichtung.
Der Überprüfungsantrag der Einsprechenden und Beschwerdeführerin im Verfahren vor der Beschwerdekammer wird gestützt auf eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 112a (2) c) in Verbindung mit 113 (1) EPÜ. Es werden zwei Verfahrensmängel geltend gemacht:
- Ohne vorherige Ankündigung habe die Beschwerdekammer überraschend sämtliche (in der Beschwerdebegründung) schriftlich vorgebrachten Angriffe der Antragstellerin bezüglich der erfinderischen Tätigkeit unbeachtet gelassen (erster Verfahrensmangel).
- Zudem sei trotz vorheriger Ankündigung Dokument E13 in der mündlichen Verhandlung überraschend nicht behandelt worden (zweiter Verfahrensmangel).
[Ende des Zitates aus dem Ladungsbescheid.]
II. Mit Verfügung des Vorsitzenden vom 19. Dezember 2019 wurde die Große Beschwerdekammer gemäß Regel 109 (2) b) EPÜ auf fünf Mitglieder erweitert. Der Antragsgegnerin (Patentinhaberin) wurde mit Mitteilung vom 12. März 2020 eine Frist gesetzt für eine Stellungnahme zum Überprüfungsantrag.
III. In der Antwort der Antragsgegnerin vom 4. Mai 2020 beantragte diese, den Antrag auf Überprüfung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen. Die Unzulässigkeit folge aus einem Verstoß gegen die Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ, die mangelnde Begründetheit daraus, dass versucht werde, die Anwendung des materiellen Rechts überprüfen zu lassen.
IV. In ihrer Mitteilung zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung (im Folgenden auch: ,,Ladungsbescheid") vom 15. September 2020 gab die Große Beschwerdekammer ihre vorläufige und unverbindliche Beurteilung bekannt.
Sie hielt den Überprüfungsantrag bezüglich des zweiten geltend gemachten Verfahrensmangels mangels Erhebung einer für die Antragstellerin möglichen Rüge nach Regel 106 EPÜ für unzulässig.
Demgegenüber hielt die Kammer die Voraussetzungen von Regel 106 EPÜ in Bezug auf den ersten Verfahrensmangel für erfüllt und den Überprüfungsantrag insoweit (und insgesamt) für zulässig. Die Antragstellerin sei nicht in der Lage gewesen, entsprechende Einwände schon im Beschwerdeverfahren bzw. in der mündlichen Verhandlung zu erheben. Die Kammer hielt den Antrag in Bezug auf den ersten Verfahrensmangel vorläufig auch für begründet. Die Nichtbeachtung der in der Beschwerdebegründung schriftlich vorgebrachten Angriffe bezüglich der erfinderischen Tätigkeit, wie in Nr. 5.1 der Entscheidung ausdrücklich festgestellt worden sei, stelle einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör (Artikel 113 (1) EPÜ) wegen einer überraschenden Entscheidungsbegründung dar. Erstmals aus der Entscheidung habe die Antragstellerin erfahren, dass Ausführungen ohne Verwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes nicht berücksichtigt werden könnten. Dieser Grund sei nicht vorhersehbar gewesen, insbesondere weil er noch nie von einer Kammer herangezogen worden sei.
V. In der Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 11. Februar 2021 zur Mitteilung der Kammer hat die Antragsgegnerin ihre Anträge wiederholt und durch einen weiteren Hilfsantrag ergänzt (siehe unten, Nr. VIII).
Zur Begründetheit des vorgebrachten ersten Verfahrensmangels meinte die Antragsgegnerin, die Angabe in der Entscheidung:
Die schriftlich vorgebrachten Angriffe der Beschwerdeführerin bezüglich der erfinderischen Tätigkeit finden folglich in dieser Entscheidung keine Beachtung.
könne für die Antragstellerin keine Überraschung darstellen.
Zur Rügepflicht führte die Antragsgegnerin aus, die Antragstellerin hätte die Verpflichtung gehabt, Punkte, die ggf. übersehen worden seien, anzusprechen, deren Behandlung erforderlichenfalls mit einem formellen Antrag einzuleiten.
VI. Die Antragstellerin hat keine Stellungnahme in der Sache zum Ladungsbescheid der Großen Beschwerdekammer abgegeben.
VII. In der mündlichen Verhandlung vor der Großen Beschwerdekammer wurde bezüglich des ersten geltend gemachten Verfahrensmangels insbesondere die Frage erörtert, ob der Vertreter der Einsprechenden schriftliches Vorbringen hätte ausdrücklich wiederholen müssen, damit es bei der Entscheidung der Kammer Berücksichtigung fände, andernfalls ein impliziter Verzicht hierauf vorläge. Diskutiert wurde auch die Frage, ob bei der denkbaren Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens diese auf von der Beschwerdekammer noch nicht behandelte Punkte zu begrenzen wäre.
VIII. In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten ihre schriftlichen Anträge als Schlussanträge wie folgt bestätigt (in der mündlichen Verhandlung vorgenommene Ergänzung in Fettdruck):
Die Antragstellerin beantragte,
die Entscheidung T 2378/13 der Technischen Beschwerdekammer 3.5.02 vom 1. April 2019 aufzuheben und das Verfahren vor der Beschwerdekammer ohne Beschränkung wiederzueröffnen,
die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen,
die Gebühr für den Antrag auf Überprüfung zurückzuzahlen.
Die Antragsgegnerin beantragte,
den Antrag auf Überprüfung als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise den Antrag auf Überprüfung als unbegründet zurückzuweisen,
weiter hilfsweise: ,,Eine allfällige Aufhebung der Entscheidung T2378/13 und eine Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Beschwerdekammer 3.5.02 hat unter der Massgabe zu erfolgen, dass sich die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäss Art. 112a(5) EPÜ ausschliesslich auf den schriftlich vorgebrachten Vorbehalt bzw. «Angriff» bezüglich erfinderischer Tätigkeit gemäss dem Abschnitt IX der Beschwerdebegründung beschränkt."
Die Große Beschwerdekammer bemerkt, dass Abschnitt IX wie folgt überschrieben ist: ,,Zu 3.6.2 Erfinderische Tätigkeit E13 allein betrachtet".
Entscheidungsgründe
[Die nachfolgenden Ausführungen sind wörtlich Teil B des Ladungsbescheids entnommen.]
I. Zulässigkeit
1. Gemäß Regel 126 (2) EPÜ gilt die am 24. April 2019 zur Post gegebene, mit Gründen versehene Entscheidung als am 4. Mai 2019 zugestellt. Der Antrag auf Überprüfung gemäß Artikel 112a EPÜ ging, zusammen mit der entsprechenden Gebühr, am 25. Juni 2019, und damit fristgerecht (Artikel 112a (4) EPÜ) ein. An sonstigen Zulässigkeitsfragen ist lediglich diejenige nach der Erfüllung der Voraussetzungen von Regel 106 EPÜ (Rügepflicht) aufgeworfen.
2. Rügepflicht betreffend den zweiten Verfahrensmangel
2.1 Die Position der Antragstellerin
Die Antragstellerin macht (unter Abschnitt C.II auf Seite 15 des Antrags) einen schwerwiegenden Verstoß gegen das rechtliche Gehör geltend:
Im Ladungsbescheid sei angekündigt worden, die erfinderische Tätigkeit ausgehend von Dokument E13 in der mündlichen Verhandlung zu erörtern. Sodann sei jedoch in der Verhandlung völlig überraschend über die erfinderische Tätigkeit abschließend entschieden worden, ohne dass E13 erörtert worden sei. ,,Nachdem diese Entscheidung getroffen war, hatte die Antragstellerin keine Möglichkeit mehr, sich mündlich zu dem Angriff aus der E13 zu äußern, obwohl sie aufgrund eines entsprechenden Hinweises in der Ladung zur mündlichen Verhandlung davon ausgehen durfte, dass die Beschwerdekammer diesen Angriff als relevant erachtete". Eine Rüge sei nicht mehr möglich gewesen, ,,da es für eine Korrektur der Entscheidung bereits zu spät war" (siehe Abschnitt B.2 auf Seite 6 oben).
2.2 Bewertung der Position der Antragstellerin
Die Auffassung der Antragstellerin ist unzutreffend. Das Protokoll weist nämlich die Standardformulierung auf:
,,Auf Frage des Vorsitzenden erklärten die Beteiligten, dass sie keine weiteren Anträge oder Anmerkungen vorzubringen haben.
Sodann erklärte der Vorsitzende die sachliche Debatte für beendet und verkündete folgende Entscheidung:".
Der Vertreter der Antragstellerin hätte nach Mitteilung des Ergebnisses der Beratung zur erfinderischen Tätigkeit (in dem Überprüfungsantrag als abschließende ,,Entscheidung" hierzu bezeichnet) rügen müssen, dass E13 noch nicht behandelt worden sei. Er hätte wissen müssen, dass es sich bei der Mitteilung über das Ergebnis der Beratung zur erfinderischen Tätigkeit nicht um eine abschließende Entscheidung hierzu gehandelt hat. Eine Entscheidung zur Beschwerde wurde - wie in mündlichen Verhandlungen vor den Beschwerdekammern des EPA üblich - erst am Ende der Verhandlung für die Beschwerde insgesamt verkündet.
Dieses Wissen ist auch bei einem Angestellten eines Unternehmens, der - ohne zugelassener Vertreter zu sein - die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung vertrat, vorauszusetzen. Der zugelassene Vertreter der Antragstellerin weist im Antrag an mehreren Stellen darauf hin, dass diese in der mündlichen Verhandlung nicht von einem zugelassenen Vertreter, sondern von einem Angestellten des Unternehmens vertreten gewesen sei. Eine Relevanz dieses Gesichtspunkt für die Rügepflicht im vorliegenden Fall ist aber nicht erkennbar. Es ist Sache eines Beteiligten zu entscheiden, ob er - im Rahmen von Artikel 133 EPÜ - sich selber, oder im Falle eines Unternehmens durch einen Angestellten, vertreten lassen oder aber einen zugelassen Vertreter mit der Vertretung beauftragen will. Grundsätzlich muss man von Verschulden eines Unternehmens ausgehen, wenn es sich von einem nicht ausreichend ausgebildeten Angestellten vertreten lässt. Ob es Fälle geben könnte, in denen man einem nicht durch einen zugelassenen Vertreter vertretenen Beteiligten gegenüber Nachsicht im Falle der Nichtausübung prozessualer Rechte [üben könnte, der allein] wegen ... [fehlender Kenntnisse einen Einwand nicht erheben konnte], kann hier offen bleiben. In manchen Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer wird darauf hingewiesen, dass man bestimmte Handlungen von einem zugelassenen Vertreter erwarten könne (siehe z.B. R 8/13 [vom 15. September 2015]: ,,ein Vertreter mit üblicher Ausbildung und Erfahrung konnte vorhersehen, welche Fragen für die Kammer entscheidend waren", zitiert nach ,,Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA", 9. Auflage 2019 (im Folgenden: ,,Rechtsprechung"), Abschnitt V.B.4.3.8.d)). Es ist aber nicht ersichtlich, dass bei einem nicht durch einen zugelassenen Vertreter vertretenen Beteiligten ein geringerer Maßstab angelegt worden wäre (wie etwa im Rahmen der zu wahrenden Sorgfalt bei einem Antrag auf Wiedereinsetzung; siehe Rechtsprechung, Abschnitt III.E.5.5.1b) und insbesondere die dort zitierte Entscheidung im Fall J 5/94).
In Inter partes-Verfahren wie hier wäre jedenfalls ein strenger Maßstab anzulegen, der es keinesfalls rechtfertigen würde, die Unkenntnis und daraus folgende Nichtbeachtung grundlegender Verfahrenspraktiken oder
-vorschriften [im Ergebnis] zu entschuldigen. Um solche handelt es sich aber bei der Praxis der Kammern, über Beratungen zu einzelnen Themenkomplexen, wie etwa der erfinderischen Tätigkeit, Ergebnisse ohne Entscheidungscharakter mitzuteilen sowie bei der Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ. Letztere soll sicherstellen, dass eine Kammer Fehler vor Ergehen einer endgültigen Entscheidung korrigieren kann. Diese Regel dient damit auch der Vermeidung unnötiger Überprüfungsanträge (Siehe Rechtsprechung, Abschnitt V.B.3.6.1.).
Nach alledem hätte der Angestellte der Einsprechenden spätestens auf die Frage des Vorsitzenden am Ende der mündlichen Verhandlung nach weiteren Anträgen oder Anmerkungen gemäß Regel 106 EPÜ rügen müssen, dass in der Verhandlung über Dokument E13 noch nicht gesprochen worden [sei] und die Kammer daher verfrüht ein Ergebnis betreffend das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit mitgeteilt habe.
Damit ist der Überprüfungsantrag bezüglich des zweiten geltend gemachten Verfahrensmangels unzulässig. Der Patentinhaberin (Antragsgegnerin), welche in ihrer Erwiderung auf den Überprüfungsantrag (unter Nr. 2.1) von einer Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ bezüglich beider geltend gemachter Verfahrensmängel ausgeht und in deren Ermangelung den Antrag für unzulässig hält, ist im Hinblick auf den zweiten Verfahrensmangel zuzustimmen.
[Ende des Zitates aus dem Ladungsbescheid.]
Die Berufung der Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung vor der Großen Beschwerdekammer auf die Praxis der Beschwerdekammern des EPA, die zu prüfenden ,,Gründe" nacheinander abzuhandeln und auf bereits behandelte Gründe nicht zurückzukommen, ist unbehelflich, da die Kammern von Rechts wegen nicht daran gehindert sind, von dieser Praxis im Einzelfall abzuweichen und auf bereits behandelte Punkte zurückzukommen. Unbehelflich ist auch der Hinweis auf eine abweichende Praxis deutscher Gerichte, da diese die Beschwerdekammern des EPA offenkundig nicht binden kann.
Die obigen Ausführungen unter Nr. 2 des Ladungsbescheids werden daher endgültig. Das gilt auch für den Text unter Nr. 1 oben.
[Der folgende Text ist wieder dem Ladungsbescheid entnommen.]
3. Rügepflicht betreffend den ersten Verfahrensmangel
3.1 Anders verhält es sich bei dem geltend gemachten ersten Verfahrensmangel der Nichtberücksichtigung des Vorbringens in der Beschwerdebegründung. Insoweit war nämlich eine Rüge nicht möglich, da die Nichtberücksichtigung erst aus der Entscheidung feststellbar war. Das wird nachstehend dargelegt.
3.2 Im Ladungsbescheid hatte sich die Kammer zur Frage der Patentierbarkeit u.a. wie folgt geäußert (unter Nr. 3.3, letzter Absatz, Seite 6):
Der derzeitige Vortrag der Beschwerdeführerin zur erfinderischen Tätigkeit verwendet jedoch nicht den Aufgabe-Lösungs-Ansatz. Dieser wird daher während der mündlichen Verhandlung verwendet werden, um zu ermitteln, ob es für den Fachmann ausgehend von Dokument D2 oder E13 nahegelegen hat, einen externen Temperatursensor durch einen in einem Mikrocontroller integrierten Temperatursensor zu ersetzen. (eigene Hervorhebung)
In dem diesem Absatz vorangehenden Text hatte sich die Kammer dennoch - wenn auch knapp - mit den Ausführungen in der Beschwerdebegründung zur erfinderischen Tätigkeit befasst (siehe Nr. 3.3, Seiten 5 - 6). Sie hat dabei den Stand der Technik im Hinblick auf die fragliche Verwendung des Temperaturmesssignals von Anspruch 1 als unstrittig bezeichnet, was sogar aus der Patentschrift hervorgehe, und ein strittiges Merkmal festgestellt. Zum Nachweis dieses Merkmals - so die Kammer - dürften Dokumente D1, D2, D3, D4 und E8 ungeeignet sein. Darüber hinaus machte die Kammer kurze Ausführungen zu Dokumenten E5, E13 und E6.
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer hat die Kammer damit jedenfalls rudimentär den Aufgabe-Lösungs-Ansatz angewandt (dabei ausdrücklich dessen Punkte (i) und (iv) unten). Die Prüfung auf erfinderische Tätigkeit nach diesem Ansatz besteht bekanntlich im Wesentlichen darin (siehe Rechtsprechung, Abschnitt I.D.2):
(i) den nächstliegenden Stand der Technik zu ermitteln,
(ii) die technischen Ergebnisse (oder Wirkungen) zu beurteilen, die mit der beanspruchten Erfindung gegenüber dem ermittelten nächstliegenden Stand der Technik erzielt werden,
(iii) die technische Aufgabe zu bestimmen, deren erfindungsgemäße Lösung diese Ergebnisse erzielen soll, und
(iv) die Frage zu prüfen, ob die beanspruchten technischen Merkmale, mit denen die erfindungsgemäßen Ergebnisse erzielt werden, angesichts des Stands der Technik im Sinne des Art. 54 (2) EPÜ für einen Fachmann naheliegend gewesen wären ...
Was die Kritik der Kammer an der fehlenden Verwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes in der Beschwerdebegründung betrifft, so weist die Große Beschwerdekammer auf Folgendes hin:
In der Beschwerdebegründung betreffend die erfinderische Tätigkeit war die Antragstellerin der Auffassung der Einspruchsabteilung zur erfinderischen Tätigkeit - jeweils unter Diskussion der drei Abschnitte 3.6.1 bis 3.6.3 der Entscheidung der Einspruchsabteilung - in den entsprechenden drei Abschnitten VIII bis X entgegengetreten. Das betraf (siehe auch die jeweilige Überschrift in der Entscheidung bzw. Beschwerdebegründung)
- D2 allein betrachtet und in Kombination D2 mit E9 (VIII. - 3.6.1),
- E13 allein betrachtet (IX. - 3.6.2) und
- D2 in Kombination mit E6 (X. - 3.6.3).
In der Entscheidung der Einspruchsabteilung hatte diese in den Abschnitten 3.6.1 bis 3.6.3 den Aufgabe-Lösungs-Ansatz ausdrücklich verwendet.
Darüber hinaus hat die Antragstellerin in der Beschwerdebegründung einen zusätzlichen Angriff aus E6 in Kombination mit D2 vorgebracht (unter X. - 3.6.3, S. 31-32).
3.3 Die Patentinhaberin hat in ihrer Beschwerdeerwiderung (Mitte Seite 3 bis Mitte Seite 4) offenbar keine Probleme gesehen, sich mit dem Vorbringen der Einsprechenden zur erfinderischen Tätigkeit in der Beschwerdebegründung auseinanderzusetzen. Auf ein Fehlen der Berücksichtigung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes in der Beschwerdebegründung hat sie nicht hingewiesen. Vielmehr hat sie ausgeführt, darin werde zur erfinderischen Tätigkeit ,,D2 ... zunächst alleine betrachtet und anschließend zusammen mit einem weiteren Dokument E9 kombiniert ...", ferner in Kombination mit E6 (siehe Mitte Seite 3). Daraufhin erörterte die Patentinhaberin die erfinderische Tätigkeit ausgehend von D2 als nächstliegendem Stand der Technik und bestätigte deren Vorliegen, sowohl ausgehend von D2 alleine als auch in Kombination mit E6 oder E9. (Siehe untere Hälfte von Seite 3.) Sodann nahm sie Bezug auf Abschnitt IX der Beschwerdebegründung, in dem die Einsprechende die erfinderische Tätigkeit ausgehend von E13 betrachtet habe. Sie wies dabei darauf hin, dass nur ein Dokument nächstliegender Stand der Technik sein könne. Separate Einwände ausgehend von D2 und E13 seien daher inkonsistent. Schließlich begründete sie, warum E13 als nächstliegender Stand der Technik nicht in Betracht komme (,,kein geeignetes Sprungbrett").
Die Patentinhaberin ist also offenkundig davon ausgegangen, dass die Einsprechende D2 und E13 als nächstliegenden Stand der Technik angesehen hat - was der erste Schritt der Prüfung im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes ist. Sie hat, ausgehend von D2, Ausführungen zur erfinderischen Tätigkeit gemacht und begründet, warum E13 als nächstliegender Stand der Technik nicht in Betracht komme.
3.4 In der zu überprüfenden Entscheidung heißt es später zu der Thematik (eigene Hervorhebungen):
5.1 Mit der Beschwerdebegründung hatte die Beschwerdeführerin eine Vielzahl von unterschiedlichen Argumentationen gegen die erfinderische Tätigkeit des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anspruchs 1 eingereicht, der dem Anspruch 1 des gültigen Hauptantrags entspricht. Allerdings basiert keine dieser Argumentationen auf dem allgemein anerkannten Aufgabe-Lösungs-Ansatz zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit. Die schriftlich vorgebrachten Angriffe der Beschwerdeführerin bezüglich der erfinderischen Tätigkeit finden folglich in dieser Entscheidung keine Beachtung.
Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat die Beschwerdeführerin Angriffe unter Verwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes vorgebracht, die die Kammer gewürdigt hat.
Erörtert wurden in der Entscheidung die drei Kombinationen:
- ,,[Nr.] 5.2 Dokument E6 und allgemeines Fachwissen oder D2" sowie
- ,,[Nr.] 5.3 Dokument D2 mit E9".
Sodann heißt es unter Nr. 5.4:
Die Kammer ist daher [d.h. nach den Erörterungen in Nr. 5.2 und 5.3] zu dem Schluss gelangt, dass keine der von der Beschwerdeführerin während der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumentationen bezüglich mangelnder erfinderischer Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 zutrifft.
3.5 Anders als im Fall des zweiten gerügten Verfahrensmangels, der Nichtbehandlung von E13 in der mündlichen Verhandlung, konnte von der Einsprechenden nicht verlangt werden zu rügen, dass das Vorbringen in der Beschwerdebegründung zur erfinderischen Tätigkeit in der mündlichen Verhandlung nicht erörtert worden sei.
Der Einsprechenden ... kann kein Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht in der mündlichen Verhandlung vorgehalten werden. In R 17/11 heißt es (unter Nr. 19):
Es obliegt den Parteien, einen Punkt, den sie für relevant halten und der ihrer Ansicht nach übersehen werden könnte, anzusprechen und - gegebenenfalls mit einem formalen Antrag - auf seiner Behandlung zu bestehen.
Die Einsprechende war nicht verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass der Inhalt der Beschwerdebegründung in der mündlichen Verhandlung besprochen würde, wenn sie - wie hier anzunehmen ist - dessen Erörterung in den schriftlichen Entscheidungsgründen erwartete und sich damit begnügt hätte. Auch (lediglich) schriftliches Vorbringen eines Beteiligten muss berücksichtigt werden; das Beschwerdeverfahren ist hauptsächlich ein schriftliches Verfahren (siehe R 8/13 [vom 15. September 2015], Nr. 13). Die mangelnde Rüge kann nicht als Verzicht auf dieses Vorbringen gewertet werden. Den Ausführungen der Antragstellerin unter Abschnitt C.2 des Überprüfungsantrags (,,erste Ausnahme") ist damit im Ergebnis zuzustimmen.
Auch aus dem Inhalt des Ladungsbescheids ergab sich keine Rügepflicht in der mündlichen Verhandlung. Denn im Ladungsbescheid wird lediglich auf die Nichtanwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes in der Beschwerdebegründung hingewiesen und dass dieser Ansatz in der mündlichen Verhandlung angewendet werde. Es wird nicht angekündigt, dass Ausführungen wegen dieser Nichtanwendung nicht berücksichtigt werden könnten. Die Antragstellerin hatte zu einer derartigen Annahme auch keinen Anlass, da - wie oben unter Nr. I.3.2 und I.3.3 gezeigt - die Kammer und die Antragsgegnerin in ihren Erörterungen der Beschwerdebegründung selbst - die Kammer jedenfalls rudimentär - den Aufgabe-Lösungs-Ansatz angewandt haben.
Schließlich wurde lt. Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung von der Kammer nicht angekündigt, dass das Vorbringen zur erfinderischen Tätigkeit in der Beschwerdebegründung unberücksichtigt bleiben würde (Seite 8, dritter Absatz, des Antrags). Das Protokoll enthält hierzu keine Aussage.
Den Ausführungen der Antragstellerin unter Abschnitt C.3 des Überprüfungsantrags (,,zweite Ausnahme") ist damit im Ergebnis zuzustimmen.
Im Zusammenhang mit der Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ trägt die Antragsgegnerin vor, die Kammer habe die Antragstellerin im Ladungsbescheid ,,überdeutlich darauf hingewiesen, für die Begründung der mangelnden erfinderischen Tätigkeit den Aufgabe-Lösungs-Ansatz für die mündliche Verhandlung vorzubereiten. Das hat die Beschwerdeführerin unterlassen" (Seite 3 der Erwiderung, unter i); Hervorhebung im Original). Des Weiteren wäre es der Beschwerdeführerin unbenommen gewesen, die schriftlich vorgebrachten Angriffe in der mündlichen Verhandlung vorzubringen (Seite 4 der Erwiderung, unter iv)).
Nach der im vorliegenden Abschnitt 3.5 zum Ausdruck gebrachten ... Meinung der Großen Beschwerdekammer geht dieser Vortrag der Antragsgegnerin vollumfänglich ins Leere.
Nach Alledem betrifft der behauptete erste Verfahrensmangel einen Mangel, der erst mit der Zustellung und der Lektüre der schriftlich begründeten Entscheidung erkennbar wurde. Deshalb war die Antragstellerin nicht in der Lage, entsprechende Einwände schon im Beschwerdeverfahren bzw. in der mündlichen Verhandlung gemäß Regel 106 EPÜ zu erheben.
Die Voraussetzungen von Regel 106 EPÜ erscheinen daher in Bezug auf den ersten Verfahrensmangel erfüllt und der Überprüfungsantrag insoweit zulässig zu sein.
[Ende des Zitats aus dem Ladungsbescheid.]
3.6 In ihrer Antwort auf den Ladungsbescheid und in der mündlichen Verhandlung ist die Antragsgegnerin der vorstehenden vorläufigen - und nunmehr endgültigen - Bewertung der Großen Beschwerdekammer entgegengetreten.
Die Antragsgegnerin vertrat die Auffassung, der Vertreter der Einsprechenden hätte schriftliches Vorbringen - also dasjenige zur erfinderischen Tätigkeit in der Beschwerdebegründung - in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich wiederholen müssen, damit es bei der Entscheidung der Kammer Berücksichtigung fände. Nachdem er das nicht getan habe, sei von einem impliziten Verzicht auf dessen Berücksichtigung auszugehen.
Dem kann nicht gefolgt werden.
Die Auffassung, schriftliches Vorbringen müsste in der mündlichen Verhandlung wiederholt werden, um Berücksichtigung zu finden, würde dem bereits im - vorstehend in relevantem Teil wiedergegebenen - Ladungsbescheid der Großen Beschwerdekammer erwähnten Grundsatz des schriftlichen Verfahrens widersprechen. Dieser Grundsatz ergibt sich aus den Verfahrensvorschriften für das Beschwerdeverfahren im EPÜ, insbesondere dessen Artikel 108 und Regel 99 (3) i.V.m. Regel 35 (1) und Regel 50 (3), sowie der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK), insbesondere deren Artikel 12 und 13. Die mündliche Verhandlung gemäß Artikel 15 VOBK bildet in der Regel den Abschluss des Verfahrens.
Das als Beleg für eine Pflicht zur Wiederholung schriftlicher Äußerungen in der mündlichen Verhandlung angeführte Zitat der Antragsgegnerin des Leitsatzes 4 von R 2/08, der auf Nr. 8.5 und 8.10 der Entscheidungsgründe verweist, liegt offenkundig neben der Sache. Nach diesem Leitsatz muss ein Beteiligter, der eine für ihn günstige Entscheidung beansprucht, aktiv am Verfahren teilnehmen. Zunächst ist in Nr. 8.5 gar nicht von der mündlichen Verhandlung die Rede, sondern von dem Verfahren insgesamt (,,procédure", nicht ,,procédure orale"). Eine aktive Teilnahme am Verfahren ist aber auch - nach dem Grundsatz des schriftlichen Verfahrens sogar in erster Linie - schriftlich möglich, und die Große Beschwerdekammer hat in R 2/08 auch auf eine fehlende Reaktion in der schriftlichen Replik des Beteiligten hingewiesen (siehe Nr. 8.1 a.E. und XIII, 2. Absatz). Darüber hinaus geht es in Nr. 8.5 um die mangelnde Stellungnahme zu einem verfahrensrechtlichen Einwand gegen die Berücksichtigung eines materiellrechtlichen Vorbringens (verspätete Erhebung des Einspruchsgrundes der Neuheit). Die Kammer hatte den Einwand akzeptiert und den materiellen Gehalt des Vorbringens nicht berücksichtigt.
Vorliegend geht es aber nicht um die mangelnde Stellungnahme zu Einwänden der Gegenseite, welche die Kammer daraufhin akzeptierte, sondern genau umgekehrt um das Erheben eigener Einwände, welche die Kammer unberücksichtigt ließ.
Was die Annahme der Antragsgegnerin eines impliziten (stillschweigenden, konkludenten) Verzichts auf schriftlichen Vorbringens durch dessen fehlende Erwähnung in der mündlichen Verhandlung betrifft, so wären angesichts des Grundsatzes der Schriftlichkeit des Verfahrens hieran strenge Anforderungen zu stellen. Denkbar wäre ein impliziter Verzicht etwa, wenn schriftliche oder in der mündlichen Verhandlung gemachte Ausführungen vorhergehenden schriftlichen Ausführungen widersprächen. Bei Zweifeln würde es dann der Kammer obliegen, durch Fragen für Klarstellung zu sorgen, welches Vorbringen dem Fall zugrunde aktuell gelegt werden soll. Anhaltspunkte hierfür liegen hier aber nicht vor.
Denkbar wäre ein impliziter Verzicht auch, wenn ein Beteiligter aus dem Prozessverlauf erkennen konnte, dass die Kammer die Prüfung des fraglichen Themas - hier der erfinderischen Tätigkeit - als erschöpft angesehen hat. Dass dies vorliegend nicht der Fall ist, wurde bereits oben unter Nr. 3.5 erläutert.
Nach Alledem kann nicht von dem von der Antragsgegnerin angenommenen impliziten Verzicht auf das in der Beschwerdebegründung gemachte Vorbringen zur erfinderischen Tätigkeit ausgegangen werden.
3.7 Aus den vorstehenden Erörterungen folgt, dass die Behauptung der Antragsgegnerin ungenügender Vorbereitung der mündlichen Verhandlung durch den Angestellten der Einsprechenden (in der Antwort auf den Ladungsbescheid, Nr. 3.3) für die Rügepflicht hinsichtlich der beiden geltend gemachten Verfahrensmängel ohne Belang ist. Der auf diese Behauptung gestützte Einwand des Rechtsmissbrauchs, der in der Einreichung des Überprüfungsantrags liegen soll, woraus eine mangelnde Zulässigkeit des Überprüfungsantrags folgen soll, ist daher gegenstandslos.
II. Begründetheit
[Die nachfolgenden Ausführungen sind wörtlich dem Ladungsbescheid entnommen.]
1. Der betreffend des ersten Verfahrensmangels zulässige Antrag ist begründet, [da] ... die Nichtbeachtung der in der Beschwerdebegründung schriftlich vorgebrachten Angriffe bezüglich der erfinderischen Tätigkeit, wie in Nr. 5.1 der Entscheidung ausdrücklich festgestellt wurde, einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör (Artikel 113 (1) EPÜ) wegen einer überraschenden Entscheidungsbegründung darstellt.
Unter der Überschrift ,,Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 113 (1) EPÜ - überraschende Entscheidungsbegründung" von R 3/15 (Abschnitt 4) heißt es unter Nr. 4.1:
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 113 (1) EPÜ erfordert es, dass die Entscheidung nur auf Gründe gestützt werden darf, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Dies bedeutet insbesondere, dass ein Beteiligter nicht durch bisher unbekannte Gründe und Beweismittel in der Entscheidungsbegründung überrascht werden darf (vgl. z.B. R 15/09 vom 5. Juli 2010, R 21/10 vom 15. Juni 2012, R 3/13 vom 30. Januar 2014). (eigene Hervorhebung)
2. Bewertung
2.1 Im vorliegenden Fall hatte die Beschwerdekammer in ihrem Ladungsbescheid eine knappe Erörterung des Vorbringens der Antragstellerin in der Beschwerdebegründung vorgenommen (siehe oben Nr. I.3.2). Grundsätzlich wäre es denkbar, sich auf den Standpunkt zu stellen, damit habe die Kammer zu den verschiedenen Angriffen betreffend die erfinderische Tätigkeit Stellung genommen. Einer Wiederholung in der schriftlichen Entscheidung bedürfe es nicht, da man davon ausgehen könne, dass die Kammer - mangels entgegenstehender Anzeichen - an dieser Sichtweise festhalte. Um die Formulierung in dem obigen Zitat aus R 3/15 anzuwenden: Es würde sich in einem solchen Fall dann nicht um ,,bisher unbekannte Gründe ... in der Entscheidungsbegründung" handeln.
Zusätzlich könnte man darauf hinweisen, dass eine Erörterung der fraglichen Gesichtspunkte auch durch die Patentinhaberin in deren Beschwerdeerwiderung (siehe oben Nr. I.3.3) erfolgt sei.
2.2 Die vorstehenden Gesichtspunkte kommen aber nicht zum Tragen. Die Kammer hat im Ladungsbescheid die verschiedenen in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Angriffe bezüglich der erfinderischen Tätigkeit - wenn auch knapp - in der Sache erörtert und ist zu einer vorläufigen (teils negativen, teils ergebnisoffenen) Einschätzung gelangt.
Diese Erwägungen spielten aber in der Entscheidung ausweislich deren ausdrücklichen Wortlauts keine Rolle mehr. Denn dort heißt es (unter Nr. 5.1), die schriftlich vorgebrachten Angriffe fänden - mangels Verwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes - keine Beachtung. Beachtet wurden diesbezüglich lediglich die drei Kombinationen von Dokumenten, welche die Einsprechende in der mündlichen Verhandlung unter Beachtung dieses Ansatzes vorgetragen hatte.
Damit beruht die Entscheidung auf einem Grund, zu welchem sich die Einsprechende vor deren Kenntnisnahme nicht äußern konnte.
Der Grund lautet: Ausführungen ohne Verwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes können nicht berücksichtigt werden.
Die Antragstellerin musste mit diesem neuen Grund auch nicht deswegen rechnen, weil sie selber nicht darauf bestanden hatte, dass die Ausführungen zur erfinderischen Tätigkeit in der schriftlichen Beschwerdebegründung auch in der mündlichen Verhandlung erörtert würden; siehe hierzu bereits oben unter Nr. I.3.5 [und I.3.6]. Denn in der schriftlichen Entscheidung musste sie nur mit einer vorhersehbaren Begründung zu diesen Ausführungen, wie etwa der im Ladungsbescheid gegebenen Begründung, rechnen.
Der neue Grund war nicht vorhersehbar, da die Beschwerdekammer ihn - wie oben ausgeführt - nie genannt hatte. Die Kammer wäre verpflichtet gewesen, der Antragstellerin vor Erlass der Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Grund zu geben.
Wie oben ... [(unter Nr. I.3.5)] ausgeführt, hat die Antragsgegnerin im Zusammenhang mit der Rügepflicht nach Regel 106 EPÜ vorgetragen, die Kammer habe die Antragstellerin im Ladungsbescheid ,,überdeutlich darauf hingewiesen, für die Begründung der mangelnden erfinderischen Tätigkeit den Aufgabe-Lösungs-Ansatz für die mündliche Verhandlung vorzubereiten. Das hat die Beschwerdeführerin unterlassen". Des Weiteren wäre es der Beschwerdeführerin unbenommen gewesen, die schriftlich vorgebrachten Angriffe in der mündlichen Verhandlung vorzubringen.
Diese Ausführungen gehen - wie oben [unter Nr. I.3] festgestellt - in Bezug auf die Rügepflicht vollumfänglich ins Leere. ... Dort wurde erläutert, dass weder die Antragsgegnerin noch die Beschwerdekammer in der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schwierigkeiten hatten, den Aufgabe-Lösungs-Ansatz (die Kammer zumindest rudimentär) auf die Ausführungen der Antragstellerin in der Beschwerdebegründung anzuwenden. Die Antragstellerin war auch nicht verpflichtet, ihr schriftliches Vorbringen in der mündlichen Verhandlung zu wiederholen, um dessen Berücksichtigung bei der Entscheidung sicherzustellen.
Nach Alledem ist der vorliegende Antrag bezüglich des ersten geltend gemachten Verfahrensmangels begründet.
[Ende des Zitats aus dem Ladungsbescheid.]
Das gilt ungeachtet des Umstandes, dass - wie aus den vorstehenden Erörterungen folgt - die Behauptung der Antragsgegnerin ungenügender Vorbereitung der mündlichen Verhandlung durch den Angestellten der Einsprechenden (in der Antwort auf den Ladungsbescheid, Nr. 3.3) nicht nur für die Rügepflicht hinsichtlich der beiden geltend gemachten Verfahrensmängel (oben, Nr. 3.7), sondern auch hinsichtlich der Begründetheit des Überprüfungsantrags ohne Belang ist. Der auf diese Behauptung gestützte Einwand des Rechtsmissbrauchs, der in der Einreichung des Überprüfungsantrags liegen soll, ist daher auch insoweit gegenstandslos.
Die vorstehenden Ausführungen zur Begründetheit im Ladungsbescheid werden daher endgültig.
3. Konsequenzen für das Verfahren vor der Beschwerdekammer
Die Antragsgegnerin beantragte hilfsweise:
Eine allfällige Aufhebung der Entscheidung T2378/13 und eine Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Beschwerdekammer 3.5.02 hat unter der Massgabe zu erfolgen, dass sich die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäss Art. 112a(5) EPÜ ausschliesslich auf den schriftlich vorgebrachten Vorbehalt bzw. «Angriff» bezüglich erfinderischer Tätigkeit gemäss dem Abschnitt IX der Beschwerdebegründung beschränkt.
(Hervorhebung durch die Kammer)
Abschnitt IX ist wie folgt überschrieben: ,,Zu 3.6.2 Erfinderische Tätigkeit E13 allein betrachtet".
Diesem Antrag kann nicht entsprochen werden. Vielmehr ist das Verfahren vor der Beschwerdekammer - wie von der Antragstellerin ausdrücklich verlangt ohne Beschränkung - gemäß Regel 108 (3), Satz 1, EPÜ wiederzueröffnen.
Das Verfahren ist wieder aufzunehmen, ohne dass aus der vorliegenden Entscheidung eine rechtliche Beschränkung hinsichtlich des Verfahrensgegenstandes folgen würde. Die weitere Prüfung ist vielmehr gemäß den allgemeinen Verfahrensbestimmungen unter Berücksichtigung von Artikel 113 (1) EPÜ durchzuführen, wobei die Kammer an die rechtliche Beurteilung der Großen Beschwerdekammer, die der Entscheidung zugrunde gelegt ist, gebunden ist. Diese Bindung folgt aus der Natur des Überprüfungsverfahrens.
Eine Beschränkung der Prüfung auf die Behebung des in der vorliegenden Entscheidung festgestellten Mangels - hier der Nichtberücksichtigung des schriftlichen Vorbringens in der Beschwerdebegründung bezüglich erfinderischer Tätigkeit (erster geltend gemachter Verfahrensmangel) -, wie in T 379/10 vom 21. September 2015 unter Hinweis auf R 21/11 angenommen, findet nicht statt. Das folgt schon daraus, dass die Große Beschwerdekammer mangels Zulässigkeit des Überprüfungsantrags im Hinblick auf den geltend gemachten zweiten Verfahrensmangel betreffend erfinderische Tätigkeit ausgehend von E 13 alleine keine Gelegenheit hatte, zu diesem behaupteten Verfahrensmangel in der Sache Stellung zu nehmen. Umgekehrt ist die von der Antragsgegnerin beantragte Beschränkung auf die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von E 13 angesichts der Nichtberücksichtigung des schriftlichen Vorbringens in der Beschwerdebegründung bezüglich erfinderischer Tätigkeit im Hinblick auf umfangreichen anderen Stand der Technik (erster Verfahrensmangel) abzulehnen, da gerade diese Nichtberücksichtigung zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führt.
Gründe für sonstige Beschränkungen hinsichtlich des Verfahrensgegenstandes sind nicht ersichtlich. Die Versagung einer Analyse von in der zu überprüfenden Entscheidung bereits vorgenommenen Würdigungen des Sachverhalts (insbesondere der von der Beschwerdekammer gewürdigten Angriffe gegen die erfinderische Tätigkeit; siehe nur 3.4 oben) aus verfahrensökonomischen Erwägungen, wie in R 21/11 (unter Nr. 30) angedeutet, ist abzulehnen. Denn es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Kammer nach Wiederaufnahme des Verfahrens im Rahmen der vorliegend erforderlichen umfassenderen Prüfung die Notwendigkeit einer Neubewertung früherer Würdigungen sehen könnte.
4. Ersetzung der Mitglieder der Beschwerdekammer
Die Antragstellerin beantragte, die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen.
Zur Begründung führt sie aus (im Überprüfungsantrag, letzter Absatz), es sei
damit zu rechnen ..., dass die Mitglieder der Beschwerdekammer in der Angelegenheit aufgrund des ihnen vorgehaltenen Verstoßes gegen das rechtliche Gehör die Sache nicht mehr neutral beurteilen werden ...
Die Antragsgegnerin stellte diesbezüglich keine Anträge. In der Antwort auf den Ladungsbescheid stellte sie (unter Nr. 5) fest, dass ,,die Beschwerdekammer und deren Vorsitzender trotz des diffusen, unstrukturierten und verwirrlichen Vorbringens der Beschwerdeführerin [Antragstellerin im Überprüfungsverfahren] einen ordnungsgemäßen Ablauf der mündlichen Verhandlung sicherstellten."
Bei einem begründeten Überprüfungsantrag kann "die Große Beschwerdekammer ... anordnen, dass Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen sind" (Regel 108 (3) EPÜ Satz 2). Die Verwendung von "kann" ("peut" und "may" im französischen bzw. englischen Wortlaut) bedeutet, dass eine Ersetzung von Kammermitgliedern im Ermessen der Großen Beschwerdekammer liegt. Aus dieser Einräumung von Ermessen ist zu folgern, dass der Gesetzgeber die Auffassung der Antragstellerin nicht geteilt hat, wonach bei begründetem Überprüfungsantrag wegen Verstoßes gegen das rechtliche Gehör eine Ersetzung von Kammernmitgliedern ohne Weiteres zu erfolgen hat.
Bei der erforderlichen Ausübung des Ermessens ist von Bedeutung, dass die Antragstellerin lediglich die abstrakte Gefahr einer mangelnden Neutralität der Kammermitglieder wegen des Vorwurfs des Gehörsverstoßes geltend gemacht, aber keinerlei konkrete Beanstandungen gegen die Mitglieder aufgrund ihres persönlichen Verhaltens erhoben hat.
Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass bis zum Beweis des Gegenteils in einem konkreten Fall davon ausgegangen werden kann, dass Mitglieder von Beschwerdekammern generell ihre Amtspflichten korrekt ausüben und dabei insbesondere bei Aufhebung einer Entscheidung in einem Verfahren nach Artikel 112a (2) c) EPÜ wegen schwerwiegender Verletzung des rechtlichen Gehörs den Fall weiterhin objektiv prüfen werden. Die Begründung der Antragstellerin trägt daher den gestellten Antrag nicht.
Aus Sicht der Großen Beschwerdekammer käme eine Ersetzung von Kammermitgliedern auch dann in Betracht, wenn der Gehörsverstoß im vorliegenden Fall so gravierend wäre, dass zu erwarten wäre, dass die Kammer in der Besetzung, in der sie die Entscheidung getroffen hat, erneut einen schweren Gehörsverstoß begehen würde. Dafür bietet der Sachverhalt aber keine Anhaltspunkte, und auch die Beteiligten haben nichts Derartiges geltend gemacht.
5. Rückzahlung der Gebühr für den Überprüfungsantrag
Insoweit folgt die Große Beschwerdekammer R 21/11, wo es (unter Nr. 31) heißt:
Die Gebühr für den Überprüfungsantrag ist zurückzuerstatten obwohl der Antrag der Antragstellerin auf Ersetzung der Beschwerdekammermitglieder keinen Erfolg hat und damit in vorliegender Entscheidung den von der Antragstellerin in Rahmen ihres Überprüfungsantrag gestellten Anträgen insgesamt nur teilweise stattgegeben wird. Gemäß Regel 110 EPÜ ordnet die Große Beschwerdekammer die Rückzahlung der Gebühr für einen Antrag auf Überprüfung an, wenn das Verfahren vor den Beschwerdekammern wiedereröffnet wird. Sobald also die Bedingung der Wiedereröffnung des Verfahrens erfüllt ist, ist die Rückzahlung der Gebühr zwingend.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Beschwerdekammer 3.5.02 wird angeordnet.
3. Die Gebühr für den Antrag auf Überprüfung wird zurückgezahlt.
4. Der Antrag, die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen, wird zurückgewiesen.