European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1992:J000191.19920331 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 31 März 1992 | ||||||||
Aktenzeichen: | J 0001/91 | ||||||||
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer: | G 0003/92 | ||||||||
Anmeldenummer: | 90304744.7 | ||||||||
IPC-Klasse: | - | ||||||||
Verfahrenssprache: | EN | ||||||||
Verteilung: | A | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | Latchways | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.1.01 | ||||||||
Leitsatz: | Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt: Wenn durch rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents einer anderen Person als dem Anmelder zugesprochen worden ist und diese andere Person unter Einhaltung der ausdrücklichen Erfordernisse des Artikels 61 (1) EPÜ gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreicht, ist diese neue Anmeldung dann nur unter der Bedingung zulässig, daß zum Zeitpunkt ihrer Einreichung die ursprüngliche, widerrechtliche Anmeldung noch vor dem EPA anhängig ist? |
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Relevante Rechtsnormen: | |||||||||
Schlagwörter: | Rechtskräftige Entscheidung eines Vertragsstaats Rechtskräftige Entscheidung einer anderen Partei als dem Anmelder zugesprochener Anspruch auf das Patent Zurücknahme der ursprünglichen Anmeldung Anhängigkeit der ursprünglichen Anmeldung Anspruch auf ein Patent Einreichung einer neuen Patentanmeldung Vorlage an die Große Beschwerdekammer |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Am 1. Mai 1990 reichte Latchways Limited nach Artikel 61 (1) b) EPÜ die europäische Patentanmeldung Nr. 90 304 744.7 ein. Dieser Anmeldung vorausgegangen war eine rechtskräftige Entscheidung des Comptroller des Patentamts des Vereinigten Königreichs (im folgenden "Comptroller" genannt) vom 6. März 1990, dem nach § 12 (1) des Patentgesetzes des Vereinigten Königreichs von 1977 (PatG 1977) die Frage zur Entscheidung vorgelegt worden war, ob Latchways Limited (im folgenden "Latchways" genannt) Anspruch auf Erteilung eines Patents auf die europäische Anmeldung Nr. 85 400 859.6 habe. Diese war am 2. Mai 1985 von Cleveland E. Dodge JR unter Inanspruchnahme der Priorität der US-Anmeldung Nr. 606 351 vom 2. Mai 1984 eingereicht worden; sie wird im folgenden als "europäische Anmeldung von Dodge" bezeichnet.
II. Nach der Beweislage führte folgender Ablauf der Ereignisse dazu, daß dem Comptroller die Frage vorgelegt wurde, ob Latchways der Anspruch auf die europäische Anmeldung von Dodge zuzusprechen sei:
Im Juni 1982 führten Vertreter von Latchways Dodge - nach den Worten des Comptroller "jemand, der das Produkt von Latchways in den Vereinigten Staaten verwerten oder weiterentwickeln sollte" - auf vertraulicher Basis einen Prototyp bzw. ein Muster von zwei verschiedenen Seilklemmenvorrichtungen vor. Am 2. Mai 1984 meldete Dodge ein US-Patent für eine Seilklemmenvorrichtung an und reichte dann am 2. Mai 1985 unter Inanspruchnahme der Priorität der US-Anmeldung unter seinem Namen auch eine europäische Anmeldung ein.
Diese europäische Anmeldung von Dodge wurde am 4. Dezember 1985 unter der Nummer EP-A-0 163 563 veröffentlicht. Sie galt mit Wirkung vom 5. August 1986 als zurückgenommen, da die Prüfungsgebühr nicht entrichtet worden war (Art. 94 (3) EPÜ).
Latchways setzte seine Entwicklungsarbeiten an den Seilklemmenvorrichtungen fort und reichte am 14. November 1986 im Vereinigten Königreich die Anmeldung Nr. 8 627 320 ein. Am 4. November 1987 erfolgte die europäische Anmeldung Nr. 87 309 752.1 , die die Priorität der UK-Anmeldung beanspruchte und am 29. Juni 1988 unter der Nummer EP-A-0 272 782 veröffentlicht wurde. Von der Existenz der früheren Anmeldung von Dodge erhielt Latchways durch den europäischen Recherchenbericht Kenntnis, der ihr am 28. April 1988 zuging. Der Comptroller wurde von Latchways dann am 10. August 1988 nach § 12 (1) PatG 1977 mit der Sache befaßt, in der am 6. März 1990 die vorstehend unter Nummer I genannte Entscheidung erging.
In dem gemäß § 12 (1) PatG 1977 eingeleiteten Verfahren machte Latchways ihren Anspruch auf Erteilung eines Patents für die in der europäischen Anmeldung von Dodge offenbarte Erfindung geltend. Sie beantragte ferner eine Verfügung gemäß § 12 (6) PatG 1977, durch die sie ermächtigt würde, für diese Erfindung eine Patentanmeldung gemäß PatG 1977 einzureichen, die so behandelt würde, als sei sie am Anmeldetag der europäischen Anmeldung eingereicht worden.
III. In seiner Entscheidung sprach der Comptroller Latchways das Recht auf Erteilung eines Patents für die in der europäischen Anmeldung von Dodge offenbarte Erfindung zu. Zur Abhilfe machte er antragsgemäß von seinem Ermessen nach § 12 (6) PatG 1977 Gebrauch und verfügte, daß Latchways nach dieser Bestimmung vorbehaltlich bestimmter Änderungen der Ansprüche eine neue Anmeldung für ein auf die Erfindung gerichtetes Patent einreichen könne. Diese solle, so verfügte er weiter, so behandelt werden, als sei sie am Anmeldetag der europäischen Anmeldung von Dodge, also am 2. Mai 1985, eingereicht worden.
Bei der den Prioritätstag betreffenden Verfügung war dem Comptroller sehr wohl bewußt, daß zwischen der europäischen Anmeldung von Dodge und einer diesbezüglichen Anmeldung von Latchways eine beträchtliche Zeitspanne verstrichen sein würde, wenn Latchways der Anspruch auf Anmeldung eines Patents für die in der europäischen Anmeldung von Dodge offenbarte Erfindung zugesprochen würde. Er vertrat die Auffassung, daß Latchways mit der vertraulichen Offenlegung ihrer Erfindung gegenüber Dodge durchaus vernünftig gehandelt habe und auch innerhalb einer angemessenen Frist tätig geworden sei, nachdem sie von der europäischen Anmeldung von Dodge Kenntnis erhalten habe.
IV. Am 1. Mai 1990 reichte Latchways daraufhin nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung für die in der europäischen Anmeldung von Dodge offenbarte Erfindung ein. Dabei machte Latchways geltend, daß die Entscheidung des Comptroller vom 6. März 1990 eine rechtskräftige Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ sei, die aufgrund des dem EPÜ beigefügten Protokolls über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents (im folgenden "Anerkennungsprotokoll" genannt) anerkannt werden müsse.
V. In der durch die vorliegende Beschwerde angefochtenen Entscheidung lehnte die Eingangsstelle den Antrag von Latchways, ihre Anmeldung als Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ anzusehen, mit der Begründung ab, daß eine Anmeldung nach Artikel 61 (und den einschlägigen Regeln) nur "im Rahmen eines noch anhängigen Erstverfahrens" möglich sei. Da für die europäische Anmeldung von Dodge mit Wirkung vom 5. August 1986 eine Rücknahmefiktion bestanden habe, sei die Einreichung der Anmeldung nach Artikel 61 (1) b) EPÜ nicht rechtsgültig erfolgt. Die Eingangsstelle berief sich dabei auf die Entscheidung T 146/82, in der nach ihrer Aussage "die Aussetzung des Verfahrens eindeutig von einem noch anhängigen Erstverfahren abhängig gemacht werde". In diesem Zusammenhang wurde aus dem Leitsatz des angesprochenen Falls die Textstelle "sofern die europäische Patentanmeldung nicht zurückgenommen worden ist oder als zurückgenommen gilt" zitiert. Die Eingangsstelle ordnete daher an, daß die Anmeldung als neue europäische Patentanmeldung mit dem 1. Mai 1990 als Anmeldetag zu behandeln sei. Die Priorität der US-Patentanmeldung Nr. 606 351 vom 2. Mai 1984 erkannte sie nicht an, da zwischen diesem Tag und dem 1. Mai 1990, den die Eingangsstelle Latchways als Anmeldetag zuerkannt hatte, mehr als ein Jahr vergangen war.
VI. Latchways legte gegen die Entscheidung der Eingangsstelle Beschwerde ein, indem sie am 19. Februar 1991 eine Beschwerdeschrift sowie eine Beschwerdebegründung einreichte und die vorgeschriebene Gebühr entrichtete, und beantragte, die Entscheidung, wonach die Anmeldung nicht als Anmeldung gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ gelten könne, in vollem Umfang aufzuheben. Die Beschwerdeführerin begründete diesen Antrag damit, daß zwischen den drei Alternativen, die dem Berechtigten nach Artikel 61 (1) a), b) und c) offenstünden, ein Unterschied gemacht werden müsse und daß Artikel 61 (1) b) keineswegs eine noch anhängige Anmeldung verlange. Die einzige Auflage nach Artikel 61 bestehe darin, daß "das europäische Patent noch nicht erteilt" sein dürfe. Im Hinblick auf die Entscheidung T 146/82 vertrat Latchways die Ansicht, daß im Leitsatz lediglich etwas ganz Offensichtliches festgestellt würde, sofern nicht an einen Fall gedacht wäre, in dem eine rechtskräftige Entscheidung auch nach Zurücknahme der ursprünglichen europäischen Patentanmeldung noch rechtserheblich sein könnte. In der Beschwerdebegründung wurde auch darauf hingewiesen, daß die Anmelderin bei Zurückweisung ihrer Beschwerde in allen benannten Staaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs jeglichen Patentschutz für die Erfindung verlieren würde.
VII. Nachträglich reichte Latchways noch einen vom 21. Februar 1991 datierten (und am 25. Februar 1991 eingegangenen) Zusatzantrag auf Rückzahlung der für die Anmeldung entrichteten Gebühren im Falle der Zurückweisung der Beschwerde ein.
VIII. Am 29. September 1991 übersandte die Kammer dem Vertreter der Beschwerdeführerin eine Mitteilung nach Artikel 110 (2) EPÜ, in der sie ihn, ohne der endgültigen Entscheidung vorzugreifen, davon unterrichtete, daß nach vorläufiger Einschätzung der Kammer Artikel 61 (1) EPÜ als Ganzes nur im Rahmen eines anhängigen Verfahrens anwendbar sei und diesbezüglich kein Unterschied zwischen den drei dem Berechtigten offenstehenden Möglichkeiten gemacht werden könne. Die Beschwerdeführerin wurde aufgefordert, eine weitere Stellungnahme einzureichen.
Am 15. Oktober 1991 ging eine Erwiderung der Beschwerdeführerin ein, deren Ausführungen sich wie folgt zusammenfassen lassen:
Artikel 61 (1) EPÜ sehe drei gesonderte, unterschiedliche Vorgehensweisen vor und schließe nicht ausdrücklich den Fall aus, daß die frühere europäische Patentanmeldung nicht mehr anhängig sei. Die einzige in Artikel 61 (1) verankerte Bedingung sei, daß das europäische Patent noch nicht erteilt worden sein dürfe. Artikel 61 (3) enthalte lediglich die Aussage, daß das anzuwendende Verfahren in der Ausführungsordnung vorgeschrieben sei. Ausschlaggebend für die Aussage des EPÜ seien aber seine Artikel. Regel 15, die sich ganz spezifisch auf die Einreichung einer neuen europäischen Patentanmeldung durch den Berechtigten beziehe und bestimme, daß die frühere europäische Anmeldung mit dem Tag der Einreichung der neuen Anmeldung als zurückgenommen gelte, stehe ohne weiteres im Einklang mit einer Situation, in der die Rücknahmefiktion für die ursprüngliche Patentanmeldung bereits eingetreten sei.
Die Beschwerdeführerin brachte auch nochmals das Argument (s. vorstehend Nr. VI) vor, daß im Falle einer ungebührlich engen Auslegung des Artikels 61 die Rechte der Anmelderin in einer Reihe europäischer Staaten gravierend beeinträchtigt würden. Es sei nicht das Verschulden der Anmelderin, daß die frühere europäische Anmeldung fallengelassen worden sei. Sie habe hierauf keinen Einfluß gehabt.
Abschließend beantragte die Beschwerdeführerin, die Sache angesichts der Bedeutung dieser Frage der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Erfordernissen der Artikel 106 bis 108 und der Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Nach Artikel 112 (1) a) EPÜ kann eine Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer befassen, wenn sie eine Entscheidung zu einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung für erforderlich hält. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin einen entsprechenden Antrag gestellt. Auch die Kammer selbst hält eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer über die grundsätzliche Rechtsfrage, die sich im vorliegenden Fall gestellt hat, für erforderlich, zumal jede diesbezügliche Entscheidung das Zusammenwirken zwischen dem EPÜ und dem nationalen Recht eines Vertragsstaats berührt.
3. Nach Artikel 60 (1) EPÜ steht das Recht auf das europäische Patent dem Erfinder oder seinem Rechtsnachfolger zu, wobei in Artikel 60 (3) der Grundsatz verankert ist, daß "im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt der Anmelder als berechtigt (gilt), das Recht auf das europäische Patent geltend zu machen".
Artikel 61 EPÜ dagegen enthält eine Regelung für den Fall, daß ein Nichtberechtigter ein europäisches Patent anmeldet. Wird durch rechtskräftige Entscheidung eines zuständigen nationalen Gerichts der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents einer Person, die nicht der Anmelder ist, zugesprochen, so ist diese Person nach Artikel 61 (1) berechtigt, wahlweise
a) die europäische Patentanmeldung an Stelle des Anmelders als eigene Anmeldung weiterzuverfolgen (Art. 61 (1) a)),
b) eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einzureichen (Art. 61 (1) b)) oder
c) zu beantragen, daß die europäische Patentanmeldung zurückgewiesen wird (Art. 61 (1) c)).
Der Berechtigte kann innerhalb von drei Monaten nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung des nationalen Gerichts einen dieser Schritte unternehmen, sofern das europäische Patent noch nicht erteilt worden ist (Art. 61 (1)).
4. Für Klagen gegen den Anmelder, mit denen der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents geltend gemacht wird, sind nach dem in Artikel 61 (1) EPÜ genannten Anerkennungsprotokoll die Gerichte der Vertragsstaaten zuständig (s. Art. 1 des Anerkennungsprotokolls).
Den Gerichten (im Sinne von Art. 2 des Anerkennungsprotokolls) sind Behörden gleichgestellt, die nach nationalem Recht für die Entscheidung über solche Klagen zuständig sind.
5. § 12 (1) PatG 1977 ist auf europäische Patente und Anmeldungen für solche Patente vorbehaltlich § 82 anzuwenden. Nach § 82 (2) wird dem Comptroller durch § 12 die Zuständigkeit für die Entscheidung in bestimmten Fragen übertragen. In § 82 (3) heißt es weiter: "Dieser Artikel ist anzuwenden, wenn sich vor der Erteilung eines europäischen Patents die Frage erhebt, wer ein Recht auf Erteilung eines europäischen Patents ... hat". Nach § 82 (4) sind das Gericht und der Comptroller unter anderem dann zuständig, wenn die Partei, die den Anspruch auf Erteilung des Patents geltend macht, ihren Wohn- oder Hauptgeschäftssitz im Vereinigten Königreich, der Anmelder dagegen seinen Wohn- und Hauptgeschäftssitz nicht in einem der in Frage kommenden Vertragsstaaten hat. Diese Bedingung ist im vorliegenden Fall erfüllt, da Latchways seinen Sitz im Vereinigten Königreich hat und Dodge in den Vereinigten Staaten ansässig ist.
6. Im vorliegenden Beschwerdefall wird die Zuständigkeit der Gerichte des Vereinigten Königreichs für die Entscheidung über den von Latchways erhobenen Anspruch durch Artikel 3 des Anerkennungsprotokolls ausdrücklich bejaht, in dem es heißt: "Wenn ... die Person, die den Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents geltend macht, ihren Wohnsitz oder Sitz in einem Vertragsstaat hat, sind ... die Gerichte des letztgenannten Staats ausschließlich zuständig."
7. Die Frage, ob Latchways Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents für die in der europäischen Anmeldung von Dodge offenbarte Erfindung hat, wurde nach § 12 (1) PatG 1977 dem Comptroller vorgelegt. Wie den vorstehenden Ausführungen zu entnehmen ist, war dieser nach den Bestimmungen des PatG 1977, die die Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aus dem EPÜ und dem Anerkennungsprotokoll rechtswirksam werden lassen, für die Entscheidung der Frage auch tatsächlich zuständig.
8. In § 12 (1) PatG 1977, in dem das Recht auf europäische und andere Patente behandelt wird, heißt es:
"Jederzeit vor Erteilung eines Patents für eine Erfindung aufgrund einer Anmeldung nach dem Recht eines anderen Staates als dem des Vereinigten Königreichs oder nach dem Recht eines zwischenstaatlichen Vertrags oder eines internationalen Übereinkommens (unabhängig davon, ob eine solche Anmeldung schon eingereicht worden ist oder nicht) a) kann jedermann dem Comptroller die Frage vorlegen, ob er ... berechtigt ist, ein Patent auf diese Erfindung zu erhalten, oder ob er ein Recht an oder aus einem so erteilten Patent oder einer Anmeldung für ein solches Patent hat oder haben würde ...; der Comptroller hat dann, soweit er dazu in der Lage ist, über die Frage zu entscheiden und die Anordnungen zu treffen, die ihm für das Wirksamwerden der Entscheidung zweckmäßig erscheinen."
9. § 12 (6) regelt die Befugnisse des Comptroller, in bestimmten Fällen Verfügungen zu erlassen, um einer nach § 12 (1) ergangenen Entscheidung über Fragen der Berechtigung im Wege der Abhilfe nach den Bestimmungen des PatG 1977 Wirksamkeit zu verleihen. § 12 (6) verweist insbesondere auf den Fall, wenn "eine Anmeldung für ein europäisches Patent (UK) zurückgewiesen oder zurückgezogen wird oder die Benennung des Vereinigten Königreichs in der Anmeldung zurückgezogen wird, nachdem die Anmeldung bereits veröffentlicht ist, aber bevor eine Frage in bezug auf das Recht am Patent gemäß vorstehendem Absatz 1 dem Comptroller vorgelegt worden ist ...", und sieht für einen solchen Fall vor, daß "der Comptroller verfügen kann, daß eine andere Person als der Anmelder, die ihm einen Anspruch auf die Erteilung eines Patents nach diesem Gesetz zu haben scheint, ... eine Anmeldung für ein solches Patent für den ganzen in der früheren Anmeldung enthaltenen Gegenstand oder einen Teil desselben ... einreichen kann und daß die Patentanmeldung, wenn sie gemäß diesem Gesetz eingereicht wird, so behandelt werden soll, als sei sie am Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht worden."
10. Im vorliegenden Fall hatte der Comptroller somit über zwei Dinge zu entscheiden, nämlich zum einen über die nach § 12 (1) vorgelegte Frage, ob Latchways Anspruch auf Erteilung eines Patents für die in der europäischen Anmeldung von Dodge offenbarte Erfindung hat, und zum anderen über einen Antrag auf Abhilfe in Form einer Verfügung gemäß § 12 (6). Eine Entscheidung nach § 12 (1) war dabei auch Voraussetzung für eine Verfügung gemäß § 12 (6). Der Comptroller erließ zwar keine ausdrückliche Anordnung oder Feststellung gemäß § 12 (1), erklärte aber, er sei angesichts der Beweismittel hinreichend davon überzeugt, daß der Gegenstand der europäischen Anmeldung von Dodge etwas enthalte, worüber Dodge durch vertrauliche Mitteilung von Latchways Kenntnis erhalten habe, und daß Latchways daher grundsätzlich Anspruch auf Erteilung eines UK-Patents für diesen Gegenstand habe. Er verfügte daher gemäß § 12 (6), daß Latchways eine neue Anmeldung für ein UK-Patent für die in der europäischen Anmeldung von Dodge offenbarte Erfindung einreichen könne und daß die neue Anmeldung so behandelt werden solle, als sei sie am Anmeldetag der europäischen Anmeldung von Dodge, also am 2. Mai 1985, eingereicht worden. Für die Kammer besteht kein Zweifel daran, daß die Entscheidung des Comptroller eine rechtskräftige Entscheidung nach § 12 (1) PatG 1977 ist.
11. Das vorstehend genannte Anerkennungsprotokoll vom 5. Oktober 1973 bestimmt in Artikel 9, daß "die in einem Vertragsstaat ergangenen rechtskräftigen Entscheidungen über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents für einzelne oder alle in der europäischen Patentanmeldung benannte Vertragsstaaten ... in den anderen Vertragsstaaten anerkannt (werden), ohne daß es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf." Weiter heißt es: "Die Zuständigkeit des Gerichts, dessen Entscheidung anerkannt werden soll, und die Gesetzmäßigkeit dieser Entscheidung dürfen nicht nachgeprüft werden."
12. Nach § 12 (7) b) PatG 1977 gilt eine Entscheidung als abschließend, d. h. rechtskräftig, wenn die Beschwerdefrist abgelaufen ist, ohne daß eine Beschwerde eingelegt wurde, oder wenn über eine eingelegte Beschwerde endgültig entschieden ist.
Im vorliegenden Fall wurde keine Beschwerde eingelegt, so daß die Entscheidung des Comptroller als rechtskräftige Entscheidung im Sinne des Artikels 61 EPÜ anzusehen ist.
13. Nach Artikel 61 EPÜ und dem Anerkennungsprotokoll entscheiden über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents in Streitfällen die nationalen Gerichte des jeweiligen Staates. Diesen Gerichten steht es jedoch nicht zu, unmittelbar nach dem EPÜ für Abhilfe zu sorgen, da dieser Punkt vom EPA nach Artikel 61 EPÜ zu regeln ist. Daher erließ das Gericht des Vereinigten Königreichs im vorliegenden Fall, nachdem es in der ihm nach § 12 (1) PatG 1977 vorgelegten Sache zugunsten von Latchways entschieden hatte, eine Verfügung gemäß § 12 (6), mit der Latchways ermächtigt wurde, eine neue Anmeldung für ein UK-Patent mit dem Anmeldetag der europäischen Anmeldung von Dodge einzureichen.
14. Auf welche Weise Entscheidungen nationaler Gerichte über Fragen der Berechtigung im europäischen Erteilungsverfahren Wirksamkeit verliehen wird, ist in Artikel 61 EPÜ geregelt. Dieser Artikel stellt zwei Grundbedingungen auf, die im vorliegenden Fall beide erfüllt sind, nämlich daß (i) eine Person, der der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents zugesprochen worden ist, nach Artikel 61 innerhalb von drei Monaten nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung des nationalen Gerichts tätig werden muß und daß (ii) das europäische Patent noch nicht erteilt sein darf.
15. In ihrer Entscheidung vom 27. Dezember 1990 hat die Eingangsstelle erklärt, daß Artikel 61 (1) EPÜ als Ganzes nur "im Rahmen eines noch anhängigen Verfahrens" anwendbar sei und diesbezüglich nicht zwischen den drei dem Berechtigten offenstehenden Möglichkeiten (s. vorstehend Nr. 3) unterschieden werden könne. Zur Untermauerung dieser Auffassung verwies die Eingangsstelle auf die Entscheidung T 146/82, in der nach ihrer Aussage "die Aussetzung des Verfahrens eindeutig von einem noch anhängigen Verfahren abhängig gemacht werde", und berief sich dabei auf die folgende Textstelle aus dem Leitsatz der Entscheidung: "... sofern die europäische Patentanmeldung nicht zurückgenommen worden ist oder als zurückgenommen gilt".
16. Die Sache T 146/82 war allerdings etwas anders gelagert als der vorliegende Fall. Sie betraf nämlich einen Antrag auf Aussetzung des europäischen Patenterteilungsverfahrens nach Regel 13 EPÜ, den eine Dritte gestellt hatte, nachdem sie vor einem nationalen Gericht ein Verfahren gegen die Anmelderin eingeleitet hatte, in dem der Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents ihr zugesprochen werden sollte. Die Kammer gelangte hier zu folgendem Schluß: "Da der Antrag auf Aussetzung des Erteilungsverfahrens Regel 13 (1) EPÜ entspricht und die Dritte die Einleitung eines rechtserheblichen Verfahrens gegen die Anmelderin beim Patentamt des Vereinigten Königreichs hinreichend nachgewiesen hat, muß dem Antrag stattgegeben werden."
17. Die von der Eingangsstelle herangezogene Textstelle aus dem Leitsatz der Sache T 146/82 erscheint in der eigentlichen Entscheidung nicht und muß deshalb außer acht gelassen werden. Es versteht sich aber von selbst, daß ein anhängiges Verfahren nur dann ausgesetzt werden kann und Regel 13 nur dann zum Tragen kommt, wenn noch eine Anmeldung anhängig ist. Im vorliegenden Fall wurde das Verfahren nach Regel 13 jedoch nicht in Anspruch genommen, da die europäische Anmeldung von Dodge zurückgenommen worden war, bevor Latchways von ihr Kenntnis erhielt.
18. Im vorliegenden Fall hat sich die Kammer mit dem Antrag einer Person zu befassen, die nach Artikel 61 (1) b) EPÜ berechtigt ist, eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einzureichen, die bereits in der früheren europäischen Anmeldung enthalten war. Nach Artikel 61 (2) EPÜ gelten für eine solche neue Anmeldung insofern besondere Bedingungen, als sie - mutatis mutandis - wie eine Teilanmeldung zu behandeln ist.
Artikel 61 (1) b) EPÜ ist Gegenstand einer eigenen Ausführungsvorschrift in Gestalt der Regel 15. Diese Regel bestimmt, daß die frühere europäische Patentanmeldung mit dem Tag der Einreichung der neuen Anmeldung als zurückgenommen gilt, und geht nicht auf den Fall einer bereits erfolgten Zurücknahme der Anmeldung ein. Sowohl Artikel 61 als auch Regel 15 sagen nichts darüber aus, ob eine neue Anmeldung zulässig ist, wenn die frühere Anmeldung vorher zurückgenommen wurde.
19. Daher muß geklärt werden, ob einer Person, der durch rechtskräftige Entscheidung einer zuständigen nationalen Behörde der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents zugesprochen worden ist, die drei Verfahrensmöglichkeiten nach Artikel 61 (1) EPÜ nur dann offenstehen, wenn noch eine europäische Patentanmeldung anhängig ist.
20. Nach Ansicht der Kammer kann Artikel 61 (1) EPÜ so ausgelegt werden, daß er dem Berechtigten mehrere alternative Verfahrenswege zur Verwirklichung rechtskräftiger Entscheidungen nationaler Gerichte unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen bietet. Nach Artikel 61 (1) a) kann der Berechtigte die Anmeldung an Stelle des Anmelders als eigene Anmeldung weiterverfolgen. In einem solchen Fall muß selbstverständlich noch eine Anmeldung anhängig sein. In dem der Kammer vorliegenden Fall geht es aber um Artikel 61 (1) b), nach dem der Berechtigte eine neue europäische Anmeldung für dieselbe Erfindung einreichen kann. Hier gibt es nach Ansicht der Kammer triftige Gründe, daran zu zweifeln, daß auch in diesem Fall eine anhängige Anmeldung erforderlich ist. Schließlich kann der Berechtigte nach Artikel 61 (1) c) auch beantragen, daß die Anmeldung zurückgewiesen wird; dies setzt voraus, daß es noch eine Anmeldung gibt.
21. Für die Auffassung, die die Eingangsstelle in ihrer Entscheidung vom 27. Dezember 1990 vertreten hat, sprechen mehrere Gründe. Bei den Verfahren nach den Regeln 13 bis 15 wird davon ausgegangen, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Anspruch nach Artikel 61 (1) EPÜ geltend gemacht wird, noch eine Anmeldung anhängig ist. Regel 13 sieht einen Mechanismus zur Aussetzung des Verfahrens beim EPA vor, der sicherstellen soll, daß eine Anmeldung in der Schwebe bleibt, solange das nationale Verfahren, in dem über den Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents entschieden wird, noch nicht abgeschlossen ist. Ähnlich verhält es sich bei Regel 14, die verbietet, daß eine anhängige Anmeldung vor Abschluß eines solchen Verfahrens zurückgenommen wird. Aus Regel 15, die auf das spezifische Verfahren zur Einreichung einer neuen Patentanmeldung durch den Berechtigten gemäß Artikel 61 (1) b) gerichtet ist, könnte man schließlich herauslesen, daß eine anhängige Anmeldung vorausgesetzt wird, weil es dort heißt, daß "die frühere europäische Patentanmeldung ... mit dem Tag der Einreichung der neuen europäischen Patentanmeldung als zurückgenommen (gilt)". Somit geben die Regeln dem Berechtigten - sofern er von der widerrechtlichen Anmeldung Kenntnis hat - die erforderlichen Mittel an die Hand, um sicherzustellen, daß die frühere Anmeldung anhängig bleibt. Daher kann durchaus argumentiert werden, daß die Aufrechterhaltung der Anhängigkeit der früheren Anmeldung für Artikel 61 (1) EPÜ als Ganzes, also auch für Artikel 61 (1) b), erforderlich ist.
22. Nach Einschätzung der Kammer müssen die vorstehenden Ausführungen aber nicht unbedingt richtig sein. Eine mögliche Gegenposition könnte sich auf folgende Argumente stützen: Artikel 61 (1) EPÜ enthält für den Berechtigten, wie vorstehend erwähnt, nur zwei Auflagen, wenn er eine neue europäische Patentanmeldung nach Artikel 61 (1) b) einreichen will: Zum einen muß er die Anmeldung innerhalb von drei Monaten nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung einreichen, und zum anderen darf das europäische Patent noch nicht erteilt sein. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Der Wortlaut des Artikels 61 EPÜ ist eindeutig. Zwar enthalten die Regeln keinen Hinweis auf den Fall, daß die frühere europäische Patentanmeldung bereits vor Einreichung der neuen Anmeldung nach Artikel 61 (1) b) zurückgenommen worden ist, von entscheidender Bedeutung ist dies jedoch nicht. Eine bestimmte Situation ist nicht allein deshalb unzulässig, weil sie in der Ausführungsordnung nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Regel 15 legt zwar als notwendiges Erfordernis für die Behandlung einer neuen Anmeldung die Zurücknahme der früheren Anmeldung fest, was aber keineswegs unvereinbar ist mit den Gegebenheiten des vorliegenden Falls. Die Regeln müssen im Einklang mit den Vorschriften des Übereinkommens ausgelegt werden, dessen Artikel 61 einen Berechtigten nicht daran hindert, unter den im vorliegenden Fall gegebenen Umständen eine neue europäische Anmeldung einzureichen.
23. Der Kammer ist dabei durchaus bewußt, daß die Anmeldung von Latchways im Falle ihrer Zulassung in den Genuß eines fünf Jahre zurückliegenden Prioritätstags gelangen würde. Mit der Prioritätsfrage hat sich der Comptroller in der Sache befaßt und zugunsten von Latchways entschieden. Dem EPA steht es nach dem Anerkennungsprotokoll nicht zu, diese Entscheidung anzufechten. Wie vorstehend dargelegt, ist nach Artikel 61 (2) EPÜ auf eine nach Artikel 61 (1) b) eingereichte neue Anmeldung der Artikel 76 (1) anzuwenden. Nach Artikel 76 (1) gilt die neue Anmeldung als an dem Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht und genießt deren Prioritätsrecht.
24. Die Große Beschwerdekammer hat für die Auslegung des EPÜ bestimmte Richtlinien aufgestellt (G 1/83, ABl. EPA 1985, 60). Im vorliegenden Fall kommen folgende Auslegungsregeln zum Tragen:
"Das Übereinkommen (EPÜ) ist nach Treu und Glauben auszulegen.
Wenn nicht feststeht, daß die Vertragsstaaten einem Ausdruck eine besondere Bedeutung beilegen wollten, ist den Bestimmungen des Übereinkommens die in ihrem Zusammenhang und im Lichte seines Zieles und Zweckes zukommende Bedeutung beizumessen.
Die vorbereitenden Unterlagen können in Betracht gezogen werden,
- um eine Bedeutung zu bestätigen, wie sie sich unter Anwendung der vorstehenden Grundsätze ergibt, oder
- um eine Bedeutung zu bestimmen, wenn bei der Anwendung der Grundsätze die Bedeutung entweder mehrdeutig oder unklar bleibt oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt" (s. Regeln 1, 2 und 5, l. c. S. 65).
Die Kammer hat die vorbereitenden Unterlagen sorgfältig geprüft und ist zu der Auffassung gelangt, daß sie für die Auslegung des Artikels 61 und der einschlägigen Regeln keine schlüssigen Hinweise enthalten. Daher erscheint es nicht gerechtfertigt, den Anwendungsbereich des Artikels 61 (1) b) entgegen der Bedeutung seines Wortlauts auf Fälle zu beschränken, in denen die frühere europäische Patentanmeldung noch anhängig ist.
25. Wie vorstehend erwähnt, obliegt nach dem EPÜ wie nach dem Anerkennungsprotokoll die Entscheidung darüber, ob eine Person Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents hat, dem nationalen Gericht. Aufgabe des EPA ist es, solche Entscheidungen nach Artikel 61 EPÜ in die Rechtspraxis umzusetzen. Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob der den Rechtsvorschriften zum Schutz des geistigen Eigentums zugrunde liegende Gedanke, daß der rechtmäßige Erfinder wie jeder andere arbeitende Mensch Anspruch auf die Früchte seiner Arbeit hat, auch hier zu beachten ist. Diesbezüglich könnte vorgebracht werden, daß es dem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden widerspräche, wenn einer Person, die nach besagtem Artikel zur Einreichung einer neuen Anmeldung für eine ihr gestohlene Erfindung berechtigt ist, dies mit der Begründung verwehrt würde, daß der nichtberechtigte Anmelder die frühere Anmeldung zurückgenommen oder fallengelassen hat. Handlungen oder Versäumnisse des nichtberechtigten Anmelders dürfen für den rechtmäßigen Erfinder keine Folgen haben. Im vorliegenden Fall hatte die Berechtigte (Latchways) keine Kenntnis von der früheren Anmeldung und keinen Einfluß auf ihre Behandlung. Es kann nicht geltend gemacht werden, daß Latchways von der früheren Anmeldung gewußt haben müßte. Die Anmeldung wurde ohne ihr Wissen und Einverständnis bösgläubig unter Mißbrauch ihres Vertrauens eingereicht.
26. Die von der Eingangsstelle vertretene Auslegung des Artikels 61 EPÜ könnte zu ungerechten Ergebnissen führen. Regel 13 (1) EPÜ eröffnet die Möglichkeit, ein von einem Nichtberechtigten eingeleitetes Patenterteilungsverfahren zu unterbrechen, um die Rechte des wirklich Berechtigten zu schützen. Wenn jedoch der Berechtigte, wie im vorliegenden Fall, von der europäischen Patentanmeldung keine Kenntnis hatte, würde er nach der Auslegung der Eingangsstelle seine Rechte verlieren, da das Verfahren vor dem EPA bereits eingestellt war, bevor der Berechtigte von der früheren Anmeldung auch nur erfahren hat. Dies würde auch dann gelten, wenn der frühere Anmelder (wie im vorliegenden Fall) bösgläubig gehandelt oder seine Anmeldung ganz gezielt in der Absicht zurückgenommen hätte, alle Bemühungen des rechtmäßigen Erfinders um Wiedererlangung der Rechte auf seine Erfindung zunichte zu machen. Auf diese Weise könnte ein Anmelder, der bösgläubig handelt, den Zweck der Regel 13 unterlaufen. Der vorliegende Fall gibt auch Anlaß zu wichtigen Überlegungen über das Zusammenspiel von EPÜ und Anerkennungsprotokoll bei ihrer Anwendung durch die nationalen Gerichte - in diesem Fall im Vereinigten Königreich - einerseits und das EPA andererseits.
27. Somit werfen die Ausführungen der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung und ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer eine grundlegende Rechtsfrage auf, nämlich ob eine neue Anmeldung nach Artikel 61 (1) b) EPÜ nur unter der Bedingung zulässig ist, daß zum Zeitpunkt ihrer Einreichung die ursprüngliche, widerrechtliche Anmeldung noch vor dem EPA anhängig ist. Nach Ansicht der Kammer gibt das EPÜ keine klare Antwort auf diese wichtige Rechtsfrage. Daher hat die Kammer entschieden, die Frage entsprechend dem Antrag der Beschwerdeführerin der Großen Beschwerdekammer vorzulegen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorgelegt:
Wenn durch rechtskräftige Entscheidung eines nationalen Gerichts der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents einer anderen Person als dem Anmelder zugesprochen worden ist und diese andere Person unter Einhaltung der ausdrücklichen Erfordernisse des Artikels 61 (1) EPÜ gemäß Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreicht, ist diese neue Anmeldung dann nur unter der Bedingung zulässig, daß zum Zeitpunkt ihrer Einreichung die ursprüngliche, widerrechtliche Anmeldung noch vor dem EPA anhängig ist?