J 0018/82 (Höhere Gewalt) of 18.5.1983

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1983:J001882.19830518
Datum der Entscheidung: 18 Mai 1983
Aktenzeichen: J 0018/82
Anmeldenummer: 81870054.4
IPC-Klasse: -
Verfahrenssprache: FR
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Cockerill
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.1.01
Leitsatz: 1. Artikel 122(5) EPÜ schließt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht nur bei Versäumung der Fristen aus, die in den dort ausdrücklich genannten Artikeln 78(2) und 79(2) festgesetzt sind, sondern auch bei Versäumung der Nachfrist nach Regel 85a, mit der die übliche Frist für die Zahlung der Anmelde-, Recherchen- und Benennungsgebühren verlängert wird (zur Unmöglichkeit der Wiedereinsetzung bei Nichtbeachtung der Regel 85b siehe die Entscheidung J 12/82 vom 11. März 1983, ABl. 6/1983, S. 221).
2. Die Begründung des Wiedereinsetzungsantrages mit dem Vorliegen höherer Gewalt kann nur im Rahmen des Artikels 122 EPÜ in Betracht gezogen werden.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 78(2)
European Patent Convention 1973 Art 79(2)
European Patent Convention 1973 Art 90(3)
European Patent Convention 1973 Art 122(5)
European Patent Convention 1973 R 85a
Schlagwörter: Höhere Gewalt
Wiedereinsetzung - Nachfrist gemäß Regel 85a EPÜ
Wiedereinsetzung - Ausschluss - höhere Gewalt
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
J 0011/86
J 0016/90
J 0009/02
J 0015/02

Sachverhalt und Anträge

I. Die europäische Patentanmeldung**, um die es im vorliegenden Fall geht, wurde am 29. Dezember 1981 unter Beanspruchung der Priorität einer nationalen Anmeldung vom 31. Dezember 1980 eingereicht. Nach Artikel 78(2) EPÜ hätten die Anmelde- und die Recherchengebühr in Höhe von 8 900 bzw. 28 700 bfrs "innerhalb eines Monats nach Einreichung der Anmeldung", also am 29. Januar 1982, entrichtet werden müssen. Bei Versäumung dieser Frist hätte die Zahlung noch "innerhalb einer Nachfrist von zwei Monaten noch Ablauf" der ersten Frist, also bis zum 29. März 1982, unter Entrichtung der in Regel 85a EPÜ vorgesehenen Zuschlagsgebühr wirksam erfolgen können. Die Benennungsgebühren in Höhe von 27 600 bfrs für sechs Länder hätten nach Artikel 79(2) und Regel 85a EPÜ innerhalb derselben Fristen entrichtet werden müssen, da die Sonderfrist von 12 Monaten nach dem Prioritätstag bereits abgelaufen war.

Am 1. März 1982 wies die Eingangsstelle die Anmelderin darauf hin, daß sie die betreffenden Gebühren nicht innerhalb einer Nachfrist von zwei Monaten, gerechnet vom 29. Januar 1982 an. nachholen könne;andernfalls gelte die europäische Patentanmeldung als zurückgenommen. Am 2. März 1982 ging bei der Amtslasse eine Zahlung in zur Deckung der Anmeldegebühr, der Recherchengebühr und der Benennungsgebühren nicht ausreichte, selbst wenn man von der nach Regel 85a zu zahlenden Zuschlagsgebühr absieht.

II. In einem an die Eingangsstelle gerichteten Schreiben vom 26. April 1982 räumte die Anmelderin ein, daß sie sich bei der Berechnung der Gebühren geirrt habe; ein Arbeitskampf in ihrer Firma habe sie daran gehindert, den Mangel rechtzeitig zu beheben. Sie kündigte die Zahlung des fehlenden Betrags an, der Kasse am 10. Mai 1982 zuging.

III. In ihrer Entscheidung vom 2. Juni 1982 verrat die Eingangsstelle die Auffassung nicht fristgerecht entrichtet worden seien und Regel 85(2) EPÜ, die bei einer allgemeinen Unterbrechung der Postzustellung eine Fristverlängerung vorsehe, im vorliegenden Fall keine Anwendung finde. Ihres Erachtens gelte die europäische Patentanmeldung daher aufgrund der Artikel 78(2), 79(2) und 90(3) EPÜ als zurückgenommen; die gezahlten Gebühren würden der Anmelderin zurückerstattet, sobald die Entscheidung rechtskräftig geworden sei.

IV. Am 11. Juni 1982 legte die Anmelderin gegen diese Entscheidung Beschwerde sein, die sie am 28. September 1982 begründete. In ihrer Beschwerde machte sie im wesentlichen folgendes geltend:

-Ihres Erachtens habe die Eingangsstelle zu Unrecht beanstandet, daß die Anmeldegebühr, die Recherchengebühr und die Benennungsgebühren am 1. März 1982 nicht entrichtet worden seien, da zu diesem zeitpunkt nur noch die Recherchengebühr ausgestanden sei.

-Die am 10. März am Bestimmungsort eingetroffene Mitteilung vom 1. März 1982 sei ihr erst am 5. April 1982 ausgehändigt worden, da zwischen dem 23. Februar und dem 5. April 1982 ein "allgemeiner Streik alle Dienststelle des Unternehmens lahmgelegt" habe;ihres Erachtens liege damit höhere Gewalt vor.

-Wäre das Schreiben vom 1. März 1982 nicht erst einen Monat nach Ablauf der üblichen Frist, sondern schon früher an sie abgeschickt worden, so hätten die Gebühren noch vor Ausbruch des Streiks entrichtet werden können.

V. Auf die Aufforderung des Berichterstatters vom 25. Januar 1983, ihre Argumente insbesondere hinsichtlich des Ausmaßes des von ihr angeführten Streiks und der Anwendbarkeit Regel 85(2) EPÜ (allgemeine Unterbrechung jeder Postzustellung am Tage eines Fristablaufs) näher zu erläutern, räumte die vom 18. März 1983 ein, daß sie sich nicht in der in dieser Regel angesprochenen Lage befunden habe. Sie hielt jedoch an der Behauptung fest, daß ein auf ein Unternehmen beschränkter Streik während eines Teils einer Frist einen noch gravierenderen Fall von höherer Gewalt darstelle als eine Störung in der Postzustellung am Tag des Fristablaufs. Sie berief sich ferner auf Artikel 9(1) Geb0, wonach das Amt "geringfügige Fehlbeträge der zu entrichtenden Gebühr" ohne Rechtsnachteil für den Einzahler unberücksichtigt lassen könne.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ. Sie ist damit zulässig.

2. Die Anmeldegebühr, die Recherchengebühr und die Beninnungsgebühren sind nicht innerhalb der in den Artikeln 78(2) und 79(2) vorgesehenen Fristen, d. h. spätestens am 29. Januar 1982, entrichtet worden, was auch die Eingangsstelle in ihrer Mitteilung vom 1. März 1982 festgestellt hat. Die Eingangsstelle hat daß Datum vom 1. März das für die Zahlung der Gebühren völlig belanglos ist, zu keinem Zeitpunkt in Betracht gezogen. Auf das erste Argument der Beschwerdeführerin braucht daher nicht eingegangen zu werden.

3. Die Mitteilung vom 1. März 1982 ist im wesentlichen ergangen, um die Beschwerdeführerin darauf hinzuweisen, daß sie noch bis zum 29. März 1982 Zeit habe, die betreffenden Gebühren zuzüglich einer Zuschlagsgebühr zu entrichten. Die Eingangsstelle war zu dieser Mitteilung nicht verpflichtet; es handelte sich vielmehr um eine Gefälligkeit gegenüber der Beschwerdeführerin, von der erwartet werden konnte, daß sie die einschlägigen Bestimmungen des EPÜ kennt. Auch kann die betreffende Mitteilung nicht als zu spät erfolgt angesehen werden, da sie nach den eigenen Aussagen der Beschwerdeführerin am 10. März 1982, also 19 Tage vor Ablauf der Nachfrist, bei dem Postamt am Bestimmungsort eingetroffen ist.

4. Grundsätzlich kann der Anmelder, "der trotz Beachtung aller nach den gegebenen Umständen gebotenen Sorgfalt verhindert worden ist, gegenüber dem Europäischen Patentamt eine Frist einzuhalten," nach Artikel 122(1) EPÜ, auf einen innerhalb einer bestimmten Frist einzureichenden Antrag und unter Zahlung einer besonderen Gebühr wieder in den vorigen Stand eingesetzt werden. Der von der Beschwerdeführerin geltend gemachte interne Streik, durch den es dem gesamten Personal einschließlich der leitenden Angestellten und der Direktion unmöglich gewesen sei, die Büroräume zu betreten, könnte die Inanspruchnahme des Wiedereinsetzungsverfahrens a priori rechtfertigen, wenn dies im Falle der Nichtzahlung der Anmeldegebühr, der Recherchengebühr und der Benennungsgebühren nicht ausdrücklich durch Artikel 122(5) ausgeschlossen wäre.

5. Dieses ausdrückliche Verbot der Wiedereinsetzung bei nicht fristgerechter Zahlung der genannten Gebühren gilt auch dann, wenn diese Gebühren nicht innerhalb der Nachfrist nach Regel 85a EPÜ entrichtet werden.

6. Würde man die Wiedereinsetzung bei Versäumung der in Regel 85a EPÜ vorgesehenen Frist zulassen, so würde damit das eindeutige Verbot des Artikels 122(5) umgangen; diese Auslegung stünde offensichtlich im Gegensatz zum Willen der Verfasser des Übereinkommens.

7. Auch wäre es unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit paradox, sich demjenigen gegenüber, der eine Nachfrist nicht einhalten kann, nachsichtiger zu zeigen als demjenigen gegenüber, der unter den gleichen Umständen die normale Frist nicht einhalten kann.

8. Zudem ist es offensichtlich, daß der Verwaltungsrat der EPO mit der Annahme der Regel 85a nicht beabsichtigt hat, den Anmeldern eine Wiedereinsetzung in die Nachfrist zu ermöglichen, während ihnen eine Wiedereinsetzung in die normalen Fristen der Artikel 78 und 79 verwehrt ist. So heißt es in der Begründung, die dem Verwaltungsrat am 20. Oktober 1979 vom Präsidenten des EPA vorgelegt wurde, ausdrücklich: "Die Wiedereinsetzung in die verlängerte Frist bleibt ausgeschlossen" (Dok. CA/61/79, S. 2). Dieser Punkt lag offenbar so klar auf der Hand, daß er in den Erörterungen, die der Annahme des Rechtstextes vorausgingen, nicht zur Sprache kam; dies geht auch aus dem Protokoll über die 7. Tagung des Verwaltungsrats der EPO vom 26.-30. November 1979 hervor (Dok. CA/PV 7, Nr. 217-245).

9. Die Kammer hatte im übrigen schon einmal eine ähnliche Entscheidung zu treffen, in der aus denselben Gründen die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung ausgeschlossen wurde; damals ging es um einen Prüfungsantrag, der weder innerhalb der normalen Frist nach Artikel 94(2) noch innerhalb der Nachfrist nach Regel 85b gestellt worden war (J 12/82-ABl. EPA 6/1983, S. 221).

10. Am Rande sei noch bemerkt, daß im vorliegenden Fall innerhalb der vorgeschriebenen Frist keine Gebühr für die Wiedereinsetzung gezahlt worden ist, so daß die Beschwerdeführerin allein schon deshalb nicht in den vorigen Stand hätte wiedereingesetzt werden können.

11. Das Argument der höheren Gewalt kann außerhalb des Artikels 122 EPÜ nicht in Betracht gezogen werden. Höhere Gewalt wird gewöhnlich wie folgt definiert: ein von außen einwirkendes unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis, das den Schuldner an der Erfüllung seiner Verpflichtung hindert (vgl. Guillien et Vincent, Lexique des termes juridiques, Dalloz 1982). Dies trifft genau auf die Situation zu, die -wenn auch weniger drastisch formuliert - in Artikel 122 angesprochen wird. Aus den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ geht hervor, daß der frühere Artikel 121 (jetzt Artikel 122) höhere Gewalt als einzigen Verhinderungsgrund genannt hat, der eine Wiedereinsetzung ermöglicht. Erst auf Wunsch der interessierten Kreise ist der Begriff erweitert worden und hat der Artikel 122 seine derzeitige Fassung erhalten (vgl. Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz (1973), Rdnr. 549-583).

12. Wie die Beschwerdeführerin in ihrem Schreiben vom 18. März 1983 selbst zugibt, steht andererseits fest, daß die Regel 85(2) EPÜ, auf die sie sich beruft, hier nicht zutrifft, da dieser Text nur Fälle betrifft, bei denen eine Frist an einem Tag abläuft, "an dem die Postzustellung in einem Vertragsstaat oder zwischen einem Vertragsstaat und dem Europäischen Patentamt allgemein unterbrochen oder im Anschluß an eine solche Unterbrechung gestört ist". In vorliegendem Fall lag nach den Angaben der Beschwerdeführerin am 29. März 1982, dem Tag des Fristablaufs, nur ein allgemeiner Streik des Personals des Unternehmens vor, der vom 23. Februar bis 2. April 1982 dauerte.

13. Schließlich kann sich die Beschwerdeführerin auch nicht auf Artikel 9(1) GebO berufen. Am 29. März 1982 hatte sie nämlich von dem fälligen Gesamtbetrag von 82 400 bfrs (Anmeldegebühr 8 900 + Recherchengebühr 28 700 + Benennungsgebühren 27 000 + 50 %-ige Zuschlagsgebühr, die jedoch nach Artikel 2 Nummer 3b GebO auf 17 800 bfrs begrenzt ist) nur 35 900 bfrs, also erheblich weniger als die Hälfte, gezahlt. Sie kann deshalb nicht ernstlich behaupten, daß es sich nur um einen "geringfügigen Fehlbetrag" gehandelt habe.

14. Die angefochtene Entscheidung ist daher in allen Punkten zu bestätigen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:

Die Beschwerde gegen die Entscheidung der Eingangsstelle des Europäischen Patentamts vom 2. Juni 1982 wird zurückgewiesen.

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