European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1984:G000783.19841205 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 05 Dezember 1984 | ||||||||
Aktenzeichen: | G 0007/83 | ||||||||
Anmeldenummer: | - | ||||||||
IPC-Klasse: | - | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | |||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | - | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | EBA | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | - | ||||||||
Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Zusammenfassung des Verfahrens
I. Im Laufe der Prüfung von sieben voneinander unabhängigen Beschwerden gegen die Zurückweisung europäischer Patentanmeldungen hat die Beschwerdekammer für Chemie der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 EPÜ folgende Rechtsfrage vorgelegt: "Kann für die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers ein Patent mit auf die Verwendung gerichteten Patentansprüchen erteilt werden?" Die Entscheidung, mit der diese Rechtsfrage vorgelegt wurde, ist am 11. August 1983 ergangen (siehe auch Bayer AG, T 17/81 ; Amtsbl. EPA 1983, 266).
II. In einer schriftlichen Mitteilung gab die Große Beschwerdekammer den Beschwerdeführern Gelegenheit, sich zu der vorgelegten Rechtsfrage schriftlich zu äußern. Jeder Beschwerdeführer war darauf hingewiesen worden, daß die Große Beschwerdekammer mit der gleichen Rechtsfrage in sechs weiteren Fällen befaßt sei und daß die Kammer die Rechtsfrage für alle vorgelegten Fälle gleichzeitig untersuchen werde.
Die Äußerungen sollten sich auf rechtliche Überlegungen zu der vorgelegten Rechtsfrage beschränken. Die Kammer wies darauf hin, daß sie nach Ablauf der Äußerungsfrist die eingereichten Ausführungen prüfen und die Beschwerdeführer unterrichten würde, ob sie die vorgelegte Rechtsfrage eindeutig positiv beantworten könne. Sollte dies nicht der Fall sein, so würde die Kammer auf Antrag eine mündliche Verhandlung durchführen.
III. Die Beschwerdeführer reichten schriftliche Stellungnahmen ein, die von der Großen Beschwerdekammer geprüft wurden.
IV. In einem weiteren schriftlichen Bescheid teilte die Große Beschwerdekammer mit, daß sie aufgrund näher angegebener Gründe nicht der Meinung sei, die ihr von der Technischen Beschwerdekammer für Chemie vorgelegte Rechtsfrage bejahen zu können. Sie wies jedoch auf eine vom schweizerischen Bundesamt für geistiges Eigentum kürzlich erteilte Rechtsauskunft über seine Praxis hinsichtlich der Zulässigkeit von "Verwendungsansprüchen" hin. Danach könne ein Anspruch wie "die Verwendung eines Erzeugnisses zur Herstellung eines Mittels für chirurgische, therapeutische oder diagnostische Zwecke" gewährt werden, selbst wenn es sich um die zweite (oder eine weitere) Anwendung eines bekannten Arzneistoffes handle. Die Große Beschwerdekammer wies darauf hin, daß sie in ihrer Entscheidung auf die Frage eingehen werde, ob diese Art von Ansprüchen nach dem Europäischen Patentübereinkommen zulässig sei.
Allen Beschwerdeführern wurde anheimgestellt, Stellungnahmen einzureichen, insbesondere auch zur Zulässigkeit der in der Schweiz möglichen "Verwendungsansprüche".
Es wurden mündliche Verhandlungen vorsorglich für November 1984 vorgesehen. Mit der Aufforderung an die Beschwerdeführer, mündliche Verhandlungen vor der Großen Beschwerdekammer frühzeitig zu beantragen, wurde die Frage verbunden, ob sie eine mündliche Verhandlung auch dann wünschten, wenn die Kammer nach Prüfung ihrer Stellungnahmen ähnliche Patentansprüche wie den Schweizer "Verwendungsanspruch" zulassen könne. Ladungen zu mündlichen Verhandlungen sind rechtzeitig ergangen.
Einige Beschwerdeführer reichten Stellungnahmen ein. Alle Beschwerdeführer verzichteten auf mündliche Verhandlungen, falls die Große Beschwerdekammer Verwendungsansprüche wie in der Schweiz zulasse.
VI. Die Große Beschwerdekammer hob später die Ladung zur mündlichen Verhandlung auf.
Entscheidungsgründe
Einleitende Bemerkungen: Auslegung des Europäischen Patentübereinkommens
1. Als internationaler Vertrag ist das Europäische Patentübereinkommen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen auszulegen, die im Völkerrecht entwickelt worden sind. Zu den internationalen Verträgen gehören nicht nur die traditionellen internationalen Verträge, die Beziehungen zwischen Staaten regeln, sondern auch die Verträge, die unmittelbar Rechte und Pflichten für natürliche und juristische Personen begründen und näher festlegen. Nach allgemein herrschender Meinung sind die Auslegungsgrundsätze für beide Arten von Verträgen gleich.
2. Da dies die erste Rechtsfrage ist, über die die Große Beschwerdekammer zu entscheiden hat, muß sie sich zunächst darüber klar werden, nach welchen Grundsätzen im einzelnen das europäische Patentübereinkommen auszulegen ist; die gleiche Frage haben außerdem zwei Beteiligte gestellt. Bereits in früheren Entscheidungen der Beschwerdekammern ist die Auslegung des Europäischen Patentübereinkommens erörtert worden. Sowohl die Juristische Beschwerdekammer (vgl. den Fall J 08/82: Amtsbl. EPA 1984, 155) als auch die Technische Beschwerdekammer für Chemie (vgl. den Fall T 128/82; Amtsbl. EPA 1984, 164) haben die Auslegungsgrundsätze angewendet, die im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (teilweise abgedruckt in Amtsbl. EPA 1984, 192) enthalten sind.
3. Die Bestimmungen des Wiener Übereinkommens können nicht unmittelbar auf das Europäische Patentübereinkommen angewendet werden, da das Wiener Übereinkommen ausschließlich auf Übereinkommen Anwendung findet, die nach dem Inkrafttreten des Wiener Übereinkommens geschlossen worden sind (Art. 4 des Wiener Übereinkommens). Bei Abschluß des Europäischen Patentübereinkommens war aber das Wiener Übereinkommen noch nicht in Kraft.
4. Es gibt jedoch überzeugende Entscheidungen, die die Auslegungsregeln des Wiener Übereinkommens auf Verträge, anwenden, für die es nicht unmittelbar gilt. So hat der Internationale Gerichtshof Grundsätze des Wiener Übereinkommens auf Sachverhalte angewendet, die nicht unmittelbar unter das Wiener Übereinkommen fallen. Ferner haben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, das deutsche Bundesverfassungsgericht und das House of Lords (England) die Auslegungsgrundsätze der Artikel 31 und 32 des Übereinkommens auch auf Verträge angewendet, auf die sie, strenggenommen, nicht anwendbar sind (vgl. Wetzel, Rasching, "Die Wiener Vertragsrechtskonvention", Metzner, Frankfurt 1978 und Fothergill v. Monarch Airlines (1981) A.C. 251, (House of Lords (England))).
Nach eingehenden Überlegungen kommt die Große Beschwerdekammer zu dem Schluß, daß das Europäische Patentamt ebenso verfahren sollte.
5. Der Inhalt der Artikel 31 und 32 des Wiener Übereinkommens kann, soweit er die Auslegung des Europäischen Patentübereinkommens betrifft, wie folgt zusammengefaßt werden:
(1) Das Übereinkommen ist nach Treu und Glauben auszulegen.
(2) Wenn nicht feststeht, daß die Vertragsstaaten einem Ausdruck eine besondere Bedeutung beilegen wollten, ist den Bestimmungen des Übereinkommens die in ihrem Zusammenhang und im Lichte seines Zieles und Zweckes zukommende Bedeutung beizumessen.
(3) Unter Zusammenhang sind für diesen Zweck zu verstehen:
- der Text des Übereinkommens (einschließlich der Präambel und der Ausführungsordnung) und
- alle sich auf das Übereinkommen beziehenden Vereinbarungen, die von allen Vertragsstaaten im Zusammenhang mit dem Abschluß des Übereinkommens getroffen worden sind (z.B. das Protokoll zu Artikel 69 EPÜ).
(4) Ferner sind zu berücksichtigen:
- alle späteren Vereinbarungen der Vertragsstaaten über die Auslegung oder die Anwendung der Bestimmungen;
- jede spätere praktische Handhabung des Übereinkommens, aus der die Übereinstimmung der Vertragsstaaten über seine Auslegung hervorgeht;
- jeder einschlägige Völkerrechtssatz.
(5) Die vorbereitenden Unterlagen und die Umstände beim Abschluß des Übereinkommens können in Betracht gezogen werden,
- um eine Bedeutung zu bestätigen, wie sie sich unter Anwendung der vorstehenden Grundsätze ergibt, oder
- um eine Bedeutung zu bestimmen, wenn bei der Anwendung der Grundsätze die Bedeutung entweder mehrdeutig oder unklar bleibt oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt.
6. Bei der Auslegung internationaler Verträge, durch die Rechte und Pflichten natürlicher oder juristischer Personen begründet werden, muß auch die Frage der Harmonisierung nationaler und internationaler Vorschriften in Betracht gezogen werden. Dieser Auslegungsgesichtspunkt, der im Wiener Übereinkommen nicht behandelt wird, ist dann von besonderer Bedeutung, wenn Bestimmungen eines internationalen Vertrags, wie es im Europäischen Patentrecht der Fall ist, in nationale Gesetzgebungen übernommen wurden. Zur Schaffung eines harmonisierten Patentrechts in den Vertragsstaaten ist eine harmonisierte Auslegung notwendig. Deshalb muß auch das Europäische Patentamt, insbesondere seine Beschwerdeinstanz, die Rechtsprechung und die Rechtsauffassungen der Gerichte und Patentämter in den Vertragsstaaten in Betracht ziehen.
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage
7. Dieser Fall ist einer von sieben, in denen die gleiche Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer vorgelegt worden ist. Die Kammer hat diese Fälle nicht formell verbunden, aber dennoch die Stellungnahmen aller Beschwerdeführer gleichzeitig geprüft. Diese Stellungnahmen wurden von der Großen Beschwerdekammer voll in Betracht gezogen, auch wenn in dieser Entscheidung nicht im einzelnen darauf verwiesen wird.
8. Bei der Vorlage der Rechtsfrage an die Große Beschwerdekammer hat die Technische Beschwerdekammer zu Recht die Bedeutung dieser Frage, insbesondere für die pharmazeutische Industrie, hervorgehoben. Sie hat auch darauf hingewiesen, daß diese Frage von nationalen Gerichten und Behörden und in der umfangreichen Fachliteratur unterschiedlich beantwortet wird.
9. Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage bezieht sich allgemein auf Patentansprüche für die therapeutische Verwendung von Stoffen und Stoffgemischen. Die Große Beschwerdekammer ist sich jedoch der Tatsache bewußt, daß das zentrale Problem, das gelöst werden soll, der Schutz der sogenannten zweiten medizinischen Indikation ist. Aus diesen Gründen hält sie es für richtig, alle damit zusammenhängenden Aspekte zu untersuchen.
10. Die Begriffe "Therapie" oder "therapeutische Behandlung" schließen nach allgemeinem Verständnis die Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers mit chemischen Stoffen oder Stoffgemischen ein. Diese Auffassung wird bekräftigt durch Artikel 54 (5) EPÜ, der Stoffen oder Stoffgemischen, die bereits zum Stand der Technik gehören, gleichwohl die Neuheit zuerkennt, wenn sie für die therapeutische Behandlung nach Artikel 52 (4) zum ersten Mal verwendet werden sollen. Werden diese beiden Artikel zusammen gelesen, so ist klar, daß Artikel 52 (4) EPÜ die therapeutische Behandlung mit chemischen Stoffen oder Stoffgemischen mit umfaßt.
11. Das Europäische Patentübereinkommen läßt generell sowohl Verfahrensansprüche als auch Verwendungsansprüche zu. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist es meist nur eine Frage der individuellen Wahl, ob der Anmelder eine Tätigkeit als Verfahren zur Ausführung der Tätigkeit unter Angabe verschiedener Verfahrensschritte beansprucht oder ob er diese Tätigkeit, zu der naturgemäß eine Folge von Verfahrensschritten gehören kann, als Anwendung oder Verwendung einer Sache für einen bestimmten Zweck in einem Anspruch geschützt erhalten will. Die Große Beschwerdekammer sieht hierin keinen sachlichen Unterschied.
Auf den vorliegenden Fall bezogen, nämlich die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung, bedeutet dies, daß es nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer nicht gerechtfertigt ist, einen Unterschied zwischen Verfahrensansprüchen und Verwendungsansprüchen zu konstruieren, wie dies von einem Beschwerdeführer getan wird. Es kann aufgrund der Bestimmungen des Europäischen Patentübereinkommens nicht etwa gesagt werden, daß ein Verwendungsanspruch die Herstellung eines pharmazeutischen Erzeugnisses mit Anweisungen zu seinem Gebrauch bei der Behandlung einer Krankheit (die augenfällige Herrichtung) mit einschließe, ein Verfahrensanspruch jedoch nicht. In beiden Fällen muß der für die therapeutische Behandlung aktive Stoff (oder das Stoffgemisch) in einem Zustand sein, in dem er seine therapeutische Wirkung entfalten kann, was notwendigerweise voraussetzt, daß das aktive Material formuliert und dosiert wurde.
12. Wie dargelegt, bestehen keinerlei Einwendungen gegen die Gewährung von Verwendungsansprüchen im allgemeinen. Die Bedenken gegen ein Patent mit Ansprüchen; die auf die Verwendung von Stoffen oder Stoffgemischen für die therapeutische Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers gerichtet sind, bestehen darin, daß diese Ansprüche nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer den Bestimmungen des Artikels 52 (4) EPÜ widersprechen, wonach Verfahren zur ... therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers ... nicht als gewerblich anwendbare Erfindungen im Sinne des Artikels 52 (1) EPÜ gelten.
13. Nach der bereits dargelegten Meinung der Großen Beschwerdekammer ist ein Patentanspruch, der auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers gerichtet ist, seinem eigentlichen Inhalt nach in keiner Weise verschieden von einem Anspruch auf ein Verfahren zur ... therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers mit dem Stoff oder Stoffgemisch. Der Unterschied beider Ansprüche besteht im Grunde nur in der Fassung; die zweite Fassung des Anspruchs widerspricht aber offensichtlich dem Artikel 52 (4) EPÜ. Aus diesem Grund kann kein europäisches Patent mit Ansprüchen weder auf ein solches Verfahren noch auf eine solche Verwendung erteilt werden (Artikel 97 (1) EPÜ) .
14. Andererseits sind Ansprüche auf Stoffe oder Stoffgemische zur Verwendung bei der therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers ohne Frage auf Erfindungen gerichtet, die nach Artikel 52 (1) EPÜ gewerblich anwendbar sind. Dies ist nicht nur ausdrücklich in Artikel 52 (4), letzter Satz, EPÜ klargestellt, sondern kann auch der in Artikel 57 EPÜ festgelegten Definition der gewerblichen Anwendbarkeit entnommen werden, wonach der Gegenstand der Erfindung "auf irgendeinem gewerblichen Gebiet einschließlich der Landwirtschaft hergestellt oder benutzt werden kann". Der letzte Satz des Artikels 52 (4) EPÜ scheint der Großen Beschwerdekammer etwas Selbstverständliches auszusagen; er dürfte auf das Bemühen zurückzuführen sein, die Rechtslage eindeutig klarzustellen.
15. Darüberhinaus sieht Artikel 54 (5) EPÜ vor, daß die allgemeinen Bestimmungen über die Neuheit (Artikel 54 (1) bis (4) EPÜ) die Patentfähigkeit von Stoffen und Stoffgemischen, die zum Stand der Technik gehören, für eine Anwendung in einem der in Artikel 52 (4) EPÜ genannten Verfahren nicht ausschließen sollen, wenn ihre Anwendung in einem solchen Verfahren nicht zum Stand der Technik gehört. Auf diese Weise kann der Erfinder einer "ersten medizinischen Indikation" einen zweckgebundenen Stoffschutz für bekannte Stoffe oder Stoffgemische erhalten, ohne auf Stoffe oder Stoffgemische beschränkt zu sein, die für eine bestimmte therapeutische Anwendung in eine entsprechende Darreichungsform gebracht wurden. Er kommt also durch den zweckgebundenen Stoffanspruch in den Genuß eines sehr weiten Schutzes. Hinsichtlich der gewerblichen Anwendbarkeit nach Artikel 57 ergeben sich keine Probleme bei diesen Patentansprüchen.
16. Patentansprüche, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels gerichtet sind, betreffen ebenfalls eindeutig nach Artikel 57 EPÜ gewerblich anwendbare Erfindungen.
17. Als die zu entscheidende Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer vorgelegt wurde, hatte der X.. Zivilsenat des deutschen Bundesgerichtshofs (nachfolgend "Bundesgerichtshof" genannt) noch nicht über die Beschwerde "Hydropyridin" (Aktenzeichen: X ZB 4/83: ABl. EPA 1984, 26) entschieden. Der Bundesgerichtshof hat inzwischen entschieden, und zwar daß nach nationalem deutschen Recht der Gegenstand eines Patentanspruchs, der auf die Verwendung eines chemischen Stoffes zur Behandlung einer Krankheit gerichtet ist, sich über die Behandlung der Krankheit hinaus auch auf die sogenannte "augenfällige Herrichtung" erstreckt, die, wie bereits erwähnt, zumindest auch die Verpackung der Substanz mit Anweisungen für ihren Gebrauch bei der Behandlung der Krankheit einschließt. Ein solcher Patentanspruch kann nach nationalem deutschen Recht verwendet werden, um eine sogenannte "zweite (oder weitere) medizinische Indikation" zu schützen. Ausgangspunkt für diese Entscheidung waren die früheren Entscheidungen des Gerichtshofs "Benzolsulfonylharnstoff" (BGHZ 68, 156 : GRUR 1977, 652: Bl. f. PMZ 1977, 198) und "Sitosterylglykoside" (GRUR 1982, 548: Bl. f. PMZ 1982, 300). In dem Sitosterylglykoside-Fall vertrat der Bundesgerichtshof 1982 die Ansicht, daß die Verwendung einer bekannten Substanz zur Heilbehandlung gewerblich anwendbar sei, weil sich die "augenfällige Herrichtung" des Wirkstoffes für therapeutische Zwecke im gewerblichen Bereich vollziehen könne.
In der Hydropyridin-Entscheidung hat der Bundesgerichtshof anerkannt, daß in der Literatur sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in anderen Staaten unterschiedliche Auffassungen bestehen, ob eine Bestimmung entsprechend Artikel 52 (4) EPÜ dem Patentschutz für eine Erfindung entgegen stehe, die sich auf die Verwendung eines bereits als Arzneimittel bekannten Stoffes für die Behandlung einer Krankheit beziehe, die bisher noch nicht mit Hilfe dieses Stoffes behandelt worden sei. Der Bundesgerichtshof hat einen solchen Ausschluß des Patentschutzes verneint. Er hat entschieden, daß die Bestimmung des nationalen deutschen Rechts, die Artikel 52 (4) EPÜ entspricht, von der Patentierbarkeit nur "Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers ausschließt, die völlig außerhalb des gewerblichen Bereichs stattfinden".
18. Das Europäische Patentamt hat die Aufgabe, Patente zu erteilen, die die gleiche Wirkung wie nationale Patente in allen Vertragsstaaten haben, selbst wenn zur Zeit nicht überall völlig harmonisierte Patentgesetze gelten oder gleiche Ansichten über die Auslegung patentrechtlicher Bestimmungen bestehen. Vor allem darf nicht vergessen werden, daß Artikel 64 (3) EPÜ vorsieht, daß Fragen der Patentverletzung nach nationalem Recht behandelt werden.
Ist ein nationaler Gerichtshof sowohl für Fragen der Gewährbarkeit bestimmter Patentansprüche als auch für Fragen des Verletzungsrechts zuständig, so liegt es nahe, daß er in seinen Überlegungen auch das ihm vertraute nationale Verletzungsrecht einbezieht.
Für das Europäische Patentamt ist es daher schwierig, der Rechtssprechung der Gerichte, auch bedeutender höchster Gerichte, nur eines einzigen Vertragsstaats in Angelegenheiten zu folgen, die eng mit dem Verletzungsrecht verbunden sind und über deren Entscheidung die Auffassungen auseinandergehen. Die Kammer bedauert es, daß der Beschwerdeführer im Hydropyridin-Fall seine beim englischen Gericht eingereichte Beschwerde gegen die Entscheidung des Britischen Patentamts zurückgezogen hat. Hätte das englische Gericht in der Sache ähnlich entschieden wie der Bundesgerichtshof, so hätte beiden Entscheidungen eine größere Bedeutung zukommen können.
Sollten andere höchste Gerichte der Vertragsstaaten der vom Bundesgerichtshof eingeschlagenen Richtung in Bezug auf nationale Patentanmeldungen folgen, so könnte dies ein Anlaß für die Große Beschwerdekammer sein, die Rechtsfrage für das Verfahren vor dem Europäischen Patentamt erneut zu überprüfen.
Im gegenwärtigen Zeitpunkt vertritt die Große Beschwerdekammer jedoch die Ansicht, daß ein Patentanspruch, der auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches bei der therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers abstellt, vom Europäischen Patentamt ebenso zu beurteilen ist wie ein auf die Behandlung gerichteter Anspruch.
19. Wie sich aus der Mitteilung der Großen Beschwerdekammer vom 31. Juli 1984 über die Praxis des schweizerischen Bundesamts für geistiges Eigentum ergibt, hat die Kammer der Möglichkeit große Aufmerksamkeit gewidmet, die zweiten und weiteren medizinischen Indikationen durch einen Anspruch auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue therapeutische Anwendung zu schützen. Solche Ansprüche verstoßen nicht gegen die Artikel 52 (4) oder 57 EPÜ; in solchen Fällen kann jedoch die Frage der Neuheit der Erfindung Probleme aufwerfen.
20. Wenn das Arzneimittel selbst in dem Sinne neu ist, daß es neue technische Merkmale besitzt - zum Beispiel eine neue Formulierung, Dosierung oder synergistische Kombination - sind die üblichen Voraussetzungen des Artikels 54 (1) bis (4) EPÜ erfüllt; die Neuheit ist gegeben unabhängig davon, ob der Anspruch auf das Erzeugnis an sich oder auf die Verwendung des Wirkstoffes zur Herstellung des Erzeugnisses gerichtet ist. Probleme bestehen jedoch, wenn sich das aus der beanspruchten Verwendung ergebende Arzneimittel in keiner Weise von einem bekannten Arzneimittel unterscheidet.
21. Wie der Bundesgerichtshof zu Recht festgestellt hat, enthält Artikel 52 (1) EPÜ den allgemeinen Grundsatz, daß Erfindungen, die gewerblich anwendbar, neu und erfinderisch sind, zu patentieren sind. Es ist unbestritten, daß die neue Verwendung eines bekannten Erzeugnisses in allen Bereichen der gewerblichen Tätigkeit, außer, im Falle der Verwendung bei chirurgischen, therapeutischen. oder diagnostischen Verfahren als solchen, durch Patentansprüche geschützt werden kann, die auf die Verwendung gerichtet sind.
Solche Verwendungsansprüche sind auch die angemessene Schutzform, da die Erfindung in der neuen und erfinderischen Verwendung des bekannten Erzeugnisses besteht. Es entspricht der klaren Absicht des Europäischen Patentübereinkommens, daß das europäische Patent für diejenige Erfindung erteilt wird, die Gegenstand der europäischen Patentanmeldung ist (vgl. im Zusammenhang die Artikel 52 (1), 69, 84 und Regel 29 EPÜ) . Eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel macht Artikel 54 (5) EPÜ hinsichtlich der ersten Verwendung als Arzneimittel, für die die eigentlich gebotene Anspruchsart der Verwendung durch Artikel 52 (4) EPÜ ausgeschlossen ist und durch den zweckgebundenen Stoffanspruch ersetzt wird. In diesem Fall wird allerdings die erforderliche Neuheit des Arzneimittels, das Gegenstand des Patentanspruchs ist, von der neuen pharmazeutischen Verwendung abgeleitet.
Aufgrund des in Artikel 52 (1) EPÜ vorgeschriebenen allgemeinen Patentierungsgebots erscheint es gerechtfertigt, dementsprechend auch die Neuheit der Herstellung eines an sich bekannten Stoffes oder Stoffgemisches aus seinem neuen therapeutischen Gebrauch abzuleiten, und zwar unabhängig davon, ob bereits eine pharmazeutische Verwendung des Stoffes oder Stoffgemisches bekannt ist oder nicht. Die Große Beschwerdekammer mißt dieser Verpflichtung zur Patentierung grundsätzlich patentfähiger Erfindungen eine so große Bedeutung bei; daß andere in Praxis und Rechtsprechung verschiedener Staaten entwickelte Grundsätze zurücktreten müssen. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der hier festgelegte Grundsatz der Beurteilung der Neuheit der Herstellung nur für die Erfindungen bzw. Patentansprüche gerechtfertigt ist, die sich auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches für ein in Artikel 52 (4) EPÜ genanntes Verfahren beziehen.
22. Zweck von Artikel 52 (4) EPÜ ist es, wie auch der Bundesgerichtshof festgestellt hat, die nicht-kommerziellen und nicht-industriellen Tätigkeiten auf dem Gebiet der Human- und Veterinärmedizin von patentrechtlichen Beschränkungen freizuhalten. Damit sich diese Ausnahmeregel nicht über ihren Zweck hinaus auswirkt, erscheint es geboten, den Begriff des "Standes der Technik" nach Artikel 54 (2) EPÜ in der auf anderen Gebieten nicht üblichen Weise in Betracht zu ziehen, daß die Neuheit der Herstellung eines Stoffes aus einer neuen Verwendung dieses Stoffes abgeleitet werden kann.
Gegenüber dem Argument, daß Artikel 54(5) EPÜ weitere medizinische Indikationen vom Patentschutz ausschließe, ist auf folgendes hinzuweisen: Dieser Artikel gibt nur einen teilweisen Ausgleich für die sich aus Artikel 52 (4) EPÜ ergebende Beschränkung des Patentschutzes für den industriellen und kommerziellen Bereich, nämlich nur für den Erfinder der ersten medizinischen Indikation.
Die Große Beschwerdekammer sieht in der Sonderregel des Artikels 54 (5) EPÜ nicht die Absicht, zweite (und weitere) medizinische Anwendungen vom Patentschutz in anderer Weise auszuschließen als durch den Ausschluß zweckbestimmter Sachansprüche. Die Auslegungsregel, wonach in der ausdrücklichen Zulassung einer Möglichkeit der Ausschluß der anderen zu sehen ist (expressio unius (est) exclusio alterius), darf nur mit größter Vorsicht angewendet werden. Eine Absicht, zweite (und weitere) medizinische Anwendungen allgemein vom Patentschutz auszuschließen, kann weder aus dem Text des Europäischen Patentübereinkommens noch aus der geschichtlichen Entwicklung der in Betracht kommenden Artikel abgeleitet werden. In letzterer Beziehung stimmt die Große Beschwerdekammer aufgrund ihrer eigenen Untersuchungen der Vorbereitenden Arbeiten mit dem Bundesgerichtshof überein.
23. Aus diesen Gründen hält es die Große Beschwerdekammer für gerechtfertigt, Patentansprüche zuzulassen, die darauf gerichtet sind, daß ein Stoff oder Stoffgemisch für die Herstellung eines Arzneimittels verwendet wird, das auf eine neue und erfinderische therapeutische Anwendung gerichtet ist, selbst wenn das Herstellungsverfahren als solches sich nicht von einem bekannten Verfahren, bei dem der gleiche Wirkstoff verwendet wird, unterscheidet.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden, daß die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wie folgt zu beantworten ist:
1. Ein europäisches Patent kann nicht mit Patentansprüchen erteilt werden, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers gerichtet sind.
2. Ein europäisches Patent kann mit Patentansprüchen erteilt werden, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung gerichtet sind.